Georgette Bosshards Sohn wurde schon als Jugendlicher straffällig
Sie gibt ihren Jungen nicht auf

Georgette Bosshards Sohn war ein feiner Bub, bis er als Jugendlicher straffällig wurde und abstürzte. Heute ist er erwachsen. Gefangen hat er sich nicht mehr. Was macht das mit einer Mutter? Eine Spurensuche.
Publiziert: 07.10.2023 um 17:23 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2023 um 18:00 Uhr
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft

Georgette Bosshard sitzt in ihrem Wohnzimmer in einem Zürcher Vorort, sanft fährt sie mit ihrem Finger über eine Wölbung auf ihrem Brustkorb, ein Schrittmacher. Sie hatte einen Herzstillstand. Sollte jetzt ruhen. Die Sihl entlangspazieren, die sie vom Fenster aus sieht. Doch sie muss etwas tun. Deshalb hat sie sich bei uns gemeldet. Sie blättert in einem dicken Bundesordner voller Verlustscheine. Greift ein Blatt heraus, wedelt damit und sagt: «Dafür muss er wohl ins Gefängnis.» Er, das ist ihr Sohn. Und der hat 70’000 Franken Schulden.

Georgette Bosshard ist 57 Jahre alt, Lehrerin und Mutter einer erwachsenen Tochter und eines Sohnes. Die Tochter ist in der Lehrerausbildung. Der Sohn kam auf Abwege. Er stürzte als Jugendlicher ab, wurde kriminell und kam nie wieder hoch. Heute ist er 29 Jahre alt, ohne Lehrabschluss, cannabisabhängig und überschuldet. Ohne seine Mutter würde er auf der Strasse leben. Oder gar nicht mehr.

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Georgette Bosshard hat genug Zahlen gesehen, legt den Ordner weg. Sie braucht eine Pause von dieser einen Frage, die sich in ihrem Kopf festgetackert hat: «Wie konnte es so weit kommen?»

Georgette Bosshard
Foto: Linda Käsbohrer

Wenige werden kriminell

Alle Eltern kennen die Angst, dass das eigene Kind abrutscht. Das Bundesamt für Statistik zeigt: 2022 wurden in der Schweiz 7478 Jugendliche nach Strafgesetzbuch verurteilt. An der Spitze der Taten: Vermögensdelikte wie Diebstahl oder Sachbeschädigung. Zwei begingen einen Mord, 80 eine schwere Körperverletzung. Schwere Straftaten im Jugendalter sind selten. Trotzdem gibt es sie. Georgette Bosshards Geschichte wirft ein Licht darauf, wie es dazu kommt. Und wie weit Mutterliebe geht.

Manchmal kommt der Sohn tagelang nicht aus der Wohnung heraus, die ihm die Mutter untervermietet. Er spricht nicht mit uns. Und so basiert dies alles auf Georgette Bosshards Erzählung.

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Georgette Bosshards Sohn ist 29, cannabisabhänig und ohne Lehrabschluss.
Foto: Linda Käsbohrer

So fing alles an

Der schwierige Sohn war mal ein fröhliches Kind. Ein aktiver Junge. Gab man ihm Malstifte und Papier, versank er in seinem Universum, war still. Später bastelte er ganze Burgen mit kleinen Menschenfiguren aus Karton, nähte aus gebrauchten Kleidern neue. Er war ein feingeistiger Mensch. Offen. Zugänglich. Bis vor 15 Jahren. Da änderte sich alles. Er wechselte von der behüteten Montessori-Schule, wo die Kinder mitbestimmten, was sie lernten, an eine öffentliche Schule der Stadt Zürich. Hier waren seine Gschpänli aus seinem Wohnquartier, bei ihnen wollte er sein. Georgette Bosshard sagt: «Mit dem Schulwechsel begann sein Unglück.»

Auf der neuen Schule machte er eine verhängnisvolle Bekanntschaft: Brian Keller. Der Junge, den 2013 ein SRF-Dok als Messerstecher mit Sondersetting berühmt machte und der heute im Gefängnis Zürich sitzt. Bosshard sagt: «Brian war der Chef einer Jungs-Clique.» Ein bunter Haufen: der Jüngste 12 Jahre alt, die Ältesten 18, manche migrantisch, andere schweizerisch, teils mit alleinerziehenden Eltern oder das Gegenteil: verheiratet und mit Einfamilienhaus. Was sie einte: Sie liebten Hip-Hop, schauten zu 50 Cent auf, trugen weite Hosen, gingen irgendwann nicht mehr zur Schule oder in den Lehrbetrieb. 

Sie hatten abgehängt, liessen sich von den Eltern nichts mehr sagen. Kifften nonstop. Am liebsten machten sie sich in Georgette Bosshards Wohnzimmer breit. Sie tolerierte das. Zu Beginn. So konnte sie steuern, was ihr Sohn trieb – dachte sie. Aber nur, bis seine Freunde bei ihr einbrachen, ihr Geld stahlen, ihren Laptop. Spätestens da war klar, sagt sie: «Ich musste etwas tun.» Doch was? Die Frage trieb auch die Eltern der anderen Jungs um, eine Mutter klingelte bei ihr an der Haustür, beriet sich mit ihr. «Wir waren alle ratlos», sagt sie.

Georgette Bosshard half in jener Zeit, was ihr schon ihr ganzes Leben lang Kraft gibt: «Secklen.» Wenn nichts mehr geht, rennt sie so weit, wie sie ihre Joggingschuhe tragen. Früher hetzte sie jeden Tag drei Stunden lang durch die Umgebung. Früher, da lief Georgette Bosshard auch noch Marathon. Und Triathlon. Ihr Körper wurde leicht, der Kopf frei. Sie sagt: «Der Sport ist mein Yoga.» Wie ein Langstreckenlauf fühlt sich auch ihr Leben als Mutter an. Auch dort geht es darum, nicht aufzugeben. Das kann sie gut. Georgette Bosshard steht immer wieder auf.

Eine trügerische Lösung: Internat

Sie sagt: «Für mich war irgendwann klar: Mein Sohn muss weg von diesen Freunden.» 2008 schickte sie ihn auf ein Internat in Interlaken BE. Womit sie nicht gerechnet hatte: Umgeben von Eiger, Mönch und Jungfrau drehte sich die Abwärtsspirale schneller.

Der Sohn riss immer wieder aus dem Internat aus, brach im Dorf in Restaurants ein, für ein paar lumpige Zigaretten, für den Kick. Ähnlich auch in Zürich. Eines Morgens stand Georgette Bosshard in ihrer leeren Autogarage. Der Sohn hatte einem Freund in der Nacht die Schlüssel zu ihrem VW Golf gegeben. Dieser raste mit dem Wagen durch Zürich und crashte in eine Hauswand. Totalschaden. Das Lokalfernsehen berichtete. All das hätte ein Weckruf sein können. Er verhallte ungehört. Bald darauf überfiel der Sohn zusammen mit vier anderen zwei Männer am Zürcher Sihlquai. Jetzt griff die Justiz ein. Der Sohn erhielt vier Monate Jugendgefängnis in Horgen ZH. Er war fast volljährig.

Georgette Bosshard hat als Lehrerin viele Schülerinnen und Schüler auf den Weg gebracht. Heute unterrichtet sie hörbehinderte Kinder. Früher waren ihre Spezialität schwierige Oberstufenklassen. Kam eine Lehrperson am Zürichberg nicht zurecht, rief man Bosshard. Sie könne gut Grenzen setzen und zeige wenig Schwäche, dafür sei sie bekannt, sagt sie. Doch beim eigenen Sohn klappte nichts davon. Sie sagt: «Ich war überfordert mit ihm.» Auch weil sie alleinerziehend war, der Kindsvater ist nicht präsent, sie trennten sich früh. Nun, wo sie gesunden muss und nicht in ihre Laufschuhe steigen kann, bleibt ihr viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. In diese schleicht sich der Zweifel: «Hätte ich es verhindern können?»

Georgette Bosshard spaziert durch die Wiesen im Kanton Zürich.
Foto: Linda Käsbohrer

Ein Delinquenzforscher erklärt

Dirk Baier ist Delinquenzforscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er hat sich mit schwierigen Jugendlichen beschäftigt und sagt: «Solche Kinder wachsen in die Kriminalität hinein.» Zwei Pfade gibt es: Kinder, die schon früh auffallen, weil sie keine Impulskontrolle haben, in der Schule ständig Unruhe stiften und schlechte Noten haben. Wenn sich deren Eltern auch noch wenig kümmern, Stress an ihnen auslassen und sogar zu Gewalt neigen, könnten sie abrutschen. Verhindern können das, wie Baier sagt, «Eltern, die Grenzen setzen, an den Kindern interessiert sind und auf Gewalt verzichten». Auf dem zweiten Pfad wandeln Kinder, bei denen alles zum Guten stehe. Bis sie die falschen Freunde treffen. Kinder wie Georgette Bosshards Sohn. 

Herr Baier, wie beurteilen Sie ihre Situation?
«Wahrscheinlich war der Zeitpunkt für das Internat falsch.» Der Sohn kam von einer vertrauten Umgebung in eine fremde Welt, war plötzlich auf sich allein gestellt. Das Kümmern, das nötig gewesen wäre, fehlte. Die Folge: Er war verunsichert. Besann sich deshalb auf seine alte Identität als delinquenter Jugendlicher – das Einzige, was er damals war, was ihm Halt gab. 

Als Eltern will man alles richtig machen, doch unklar ist, was das ist. Vor allem bei schwierigen Jugendlichen. Für diese Mütter und Väter gibt es kein Lehrbuch, kein Coaching. Nichts. Sie sind auf sich gestellt. Das weiss Georgette Bosshard.

Als der Sohn während der Internatszeit die ersten Einbrüche beging, noch vor dem Gefängnisaufenthalt, ging sie bei der Jugendanwaltschaft Stadt Zürich (Juga) vorbei. Ihr Wunsch: ein runder Tisch mit Fachleuten, um ihn vor weiteren Taten abzuhalten. Und sie bat um Sanktionen. Er sollte Grenzen bekommen. «Auf mich hörte er nicht mehr», sagt sie. Der zuständige Anwalt habe nur auf einen Papierberg vor ihm gezeigt, gesagt, es gebe schlimmere Fälle, als ihr Sohn einer sei. «Ich sollte selber schauen», sagt sie. Die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich nimmt wegen des Persönlichkeitsschutzes keine Stellung zum Fall. Was sich sagen lässt: 2022 haben die Jugas im Kanton gegen 5994 Jugendliche ein Strafverfahren eröffnet. Dazu gehören auch leichtere Fälle, die nicht nach Strafgesetzbuch abgehandelt werden.

Georgette Bosshards Geschichte ist symptomatisch. Dirk Baier sagt: «Es gibt eine Lücke im System.» Es gibt Gewaltpräventionsstellen, es gibt Mentoringprogramme wie «Mit mir» von Caritas. Doch es gibt keine staatliche Stelle, kein Programm für abgestürzte Jugendliche, um sie wieder ins Leben zu holen. Sie verschwinden in einem Dunkelfeld. Und tauchen in den Sozialhilfe- und Kriminalstatistiken als Erwachsene wieder auf.

Georgette Bosshard sagt: «Mein Sohn ist kein böser Mensch.» Seit ihrem Herzstillstand kommt er öfter aus seiner Wohnung raus. Er besucht sie, kauft für sie ein. Einmal sagte er: «Es tut mir leid, Mam.» Und dankte ihr für alles.

Das Unheil nimmt kein Ende

Georgette Bosshard trägt ihn. Auch wenn es sie fast alles kostet. Kraft. Und Geld. Sie kommt für jede Wohngruppe auf, aus der er fliegt. Für Schulden, die er anhäuft und für die sie sich selbst Geld borgen muss. Sie ruft Notfallpsychiater und Polizei, wenn er wegen einer Kifferpsychose mit Selbstmord droht. Sie organisiert einen Beistand, weil er es nicht schafft, die Post zu öffnen, und sich so die unbezahlten Rechnungen anhäufen. Mit Letzterem ist nun seit Frühling Schluss. Der Sohn will keine Beistandschaft mehr. Und die Stadt Zürich verordnet ihm keine – er sei mündig. Wieder einmal ist alles ungewiss. Georgette Bosshard sagt: «Ich bin müde.» 

Auf ihrem Wohnzimmertisch liegt das Buch «Die Kunst, ein Egoist zu sein». Ein Geschenk von einem Freund. Bosshard hat es noch nicht gelesen. Keine Zeit. Zuerst kommt der Sohn. Er braucht jetzt einen Ausbildungsplatz.

Frau Bosshard, hört Mutterliebe nie auf?
Sie sagt: «Er ist mein Sohn. Ich habe ihn geboren. Ich werde ihn nicht sterben lassen.»

Ganz am Schluss spricht sie doch noch über sich. Über ihren Wunsch. Eine kleine Wohnung in den Bergen, umgeben von Wäldern und Wiesen, ganz für sich allein. Sie sagt: «Das ist mein Traum: Alles zurücklassen.»

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