Fünf Frauen erzählen, wofür sie gestern auf die Strasse gingen
Wir wollen nicht nochmals 28 Jahre warten

Gestern demonstrierten in der ganzen Schweiz Hunderttausende Frauen. Fünf von ihnen erzählen hier, weshalb sie auf die Strasse gingen.
Publiziert: 14.06.2019 um 23:31 Uhr
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Frauen seien gleich stark wie Männer, findet Xenia aus Zürich.
Foto: Anne Grimshaw
Sermîn Faki, Anne Grimshaw, Lea Hartmann, Marsel Szopinski, Cinzia Venafro

Annabelle (27)

Annabelle verkörpert den Frauenstreik in Zürich mit ihrem ganzen Auftreten: Von Kopf bis Fuss ist alles lila. Ihr rechtes Auge wird von einem Venussymbol geziert, das auch ein Zeichen der Frauenbewegung ist.

Doch wieso geht die sie auf die Strasse? «Ich fordere die Gleichstellung aller Frauen und Männer», sagt sie zu BLICK. «Es macht mich wütend, dass wir im Jahr 2019 immer noch grundlos weniger verdienen. Darum bin ich heute hier. Für meine Mutter, meine Schwester und alle anderen Frauen.» An Frauen, die nicht selbst am Umzug teilnehmen können, hat sie eine Botschaft: «Wir sind für euch da – ihr seid nicht allein. Habt Kraft.» 

Am Streik selbst fühlt sich Annabelle durch die Solidarität unter den Streikenden gestärkt. Sie findet es wichtig, dass Frauen in der Gesellschaft eine Stimme haben. Auch die Sichtbarkeit ist einer der Gründe, wieso sie streikt: «Frauen und Männer in der Politik sollen uns sehen und endlich etwas verändern.»

Annabelles wichtiges Anliegen ist es, dass sexuelle Gewalt an Frauen verschwindet. «Wenn ich von heute auf morgen etwas ändern könnte, wäre es genau das.» Annabelle ist sich aber bewusst, dass das ein langer Prozess wird.

Xenia (20)

Xenia aus Zürich setzt sich gegen Vorurteile gegenüber Frauen ein. Ihr selbst wurden seit jeher Dinge wie «Mädchen machen keinen Seich» gesagt und eingetrichtert, dass Mädchen Emotionen zeigen müssen.

Als begeisterte Sportlerin muss Xenia auch auf dem Feld immer wieder gegen Vorurteile kämpfen. Beim Fussball wird sie von Männern oft unfair behandelt: «Ich muss immer hundertmal mehr Gas geben als ein Mann, damit man mir glaubt, dass ich wirklich spielen kann», erklärt sie. «Zuerst heisst es immer: ‹Du kannst eh nicht Fussball spielen.›» Wenn sie dann den Ball habe, seien alle geschockt.

Xenia findet, dass noch viel zu viel zwischen Mann und Frau unterschieden wird. «Wir sind alle Menschen. Wenn du etwas gut kannst, dann ist das toll. Wenn nicht, dann ist das auch egal, aber es sollte nicht davon abhängig sein, welches Geschlecht du hast.»

Deshalb sind auch ihre Forderungen am heutigen Frauenstreik klar: Es gebe noch viel zu verändern. «Ich möchte, dass wir alle merken, dass Frauen gleich stark sind wie Männer. Gemeinsam kriegen wir das auf die Reihe.»

Adriana Giovanoli (52)

«Pressierts? Ja», steht auf dem violetten Banner, das Adriana Giovanoli (52) in die Höhe streckt. Erst gestern sei sie genau das gefragt worden, als sie wieder einmal das Thema Gleichstellung ansprach, erzählt die Verwaltungsangestellte, die mit ihrem Mann in der Stadt Bern lebt. Warum es pressiert? «Weil das Thema lohnrelevant ist», sagt Giovanoli. Und schiebt nach: «Ich will nicht noch einmal 20 Jahre warten!»

Von der Lohnungleichheit zwischen Frau und Mann sei auch sie betroffen. Sie wisse, dass weniger qualifizierte Kollegen mehr verdienen würden als sie. Und Giovanoli weiss auch: Es wäre keine Hexerei, das zu ändern. «Man kann, wenn man will!», sagt sie. Als Angestellte im Personalwesen spreche sie hier aus Erfahrung.

Giovanoli, die sich für den Frauenstreik freinahm, ist sich bewusst, dass protestieren allein wenig bewegt. «Nur mit der Trillerpfeife kann man nichts erreichen.» Wichtig sei, dass man sich auch traue, das Thema im Alltag immer wieder anzusprechen, betont sie. 

Der Streik ist aus Sicht Giovanolis aber dennoch wichtig. «So merken wir Frauen, dass wir nicht allein sind.» Das stärke, ist die Bernerin überzeugt. «Ich glaube fest daran, dass wir etwas verändern können.» 

Paula Peter (68)

Sie ging schon 1991 auf die Strasse – und auch gestern war Paula Peter (68) schon vor 10 Uhr auf dem Bundesplatz anzutreffen. «Der Frauenstreik ist viel organisierter als damals», sagt die pensionierte Ergotherapeutin staunend.

Sie betont: «Damals protestierte ich gegen die himmeltraurige Ungerechtigkeit der ungleichen Löhne. Unfassbar, dass wir die gleiche Forderung noch immer haben!»

Die zweifache Mutter (zwei Söhne, 29 und 31) reduzierte ihr Arbeitspensum nach dem Mutterschaftsurlaub vor gut 30 Jahren zunächst auf 80 und am Ende auf 30 Prozent. «Ich arbeitete in der Psychiatrie, das war mit Kindern nicht möglich», erinnert sie sich. «Ich musste mich zwischen den Patienten und meinen damals noch kleinen Kindern entscheiden.»

Heute bezahle sie die Rechnung dafür. «Ohne meinen Mann wäre ich heute arm. Von der AHV alleine kann man ja nicht leben!», sagt die Bernerin. Eine eigene Pensionskasse konnte Paula Peter nie aufbauen: Sie leistete wie so viele Frauen unbezahlte Care-Arbeit, engagierte sich in der Schulkommission und organisierte einen Mittagstisch für Kinder.

Stolz ist sie jetzt auf ihren Sohn, der sie bereits zum Grosi gemacht habe. «Er ist Feminist und teilt sich die Betreuungs- und Hausarbeit genau zur Hälfte mit seiner Frau.» Dies zeige ihr, dass der Kampf von damals heute Früchte trage. «Trotzdem muss gerade für junge Eltern noch ganz viel passieren, damit wir die Gleichberechtigung wirklich endlich erreichen.»

Gülsen Fanelli (32)

Gülsen Fanelli (32) aus Domat/Ems GR war am Freitag auf der Strasse. Die Mutter von zwei kleinen Buben (6 und 7 Jahre alt) arbeitet als Arzthelferin in Bad Ragaz SG. Nur in einem 40-Prozent-Pensum. «Mehr geht gar nicht», sagt die Tochter türkischer Einwanderer, die mit einem Italiener verheiratet ist. «Zum Glück kann ich bei der Kinderbetreuung zwei Tage auf meine Mutter zählen. Müsste ich die Kinder extern betreuen lassen, könnte ich zu Hause bleiben, denn dann würde mein Lohn grad mal für die Betreuung reichen.»

«Es muss sich endlich etwas ändern!»
Sie kenne viele alleinerziehende Mütter, die wegen der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten echt zu kämpfen hätten. Sie habe Glück gehabt: Ihre Chefinnen seien ebenfalls Mütter und hätten daher Verständnis. Nicht zu arbeiten, käme für Fanelli nicht infrage. «Nicht nur wegen des Einkommens. Ich hab doch keinen Beruf gelernt, um zu Hause zu bleiben!»

Gerade in Gesundheitsberufen sei ein längerer Arbeitsunterbruch fatal, sagt sie. «Man ist relativ schnell weg vom Fenster.» Darum fordert sie – bei der Lohngleichheit und bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: «Es muss sich endlich etwas ändern!»

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