Noch bevor die Schulglocke um 8.20 Uhr klingelt, noch bevor die Lehrerin da ist, sitzen schon alle Kinder an ihrem Platz. Es ist mucksmäuschenstill.
«Guten Morgen, wie fühlt ihr euch heute morgen?», fragt Lehrerin Tabea Lindauer (22). «Glücklich», antworten die Schülerinnen und Schüler in noch ungelenkem Deutsch.
Für diese Kinder und Jugendlichen bedeutet Schule Glück. Sie alle sind aus ihrer Heimat in die Schweiz geflüchtet. Manche von ihnen waren nur wenige Jahre in der Schule, manche gar nie. Und jetzt sitzen sie da, in diesem umfunktionierten Lehrerzimmer im Schulhaus Lindenbühl in Volketswil ZH.
Seit zwei Wochen sind sie die Asylklasse, so nennt man sie hier. Die derzeit 25 Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und 17 Jahren wohnen alle im Durchgangszentrum Hegnau ZH. Die Volketswiler Schulpräsidentin Rosmarie Quadranti (58) hat entschieden, dass sie ab den Frühlingsferien in einer separaten, altersgemischten Klasse unterrichtet werden sollen (siehe Interview). An erster Stelle steht das Deutsch lernen, die Integration in Schweizer Regelklassen wird hinten angestellt.
Kouser (13) aus Afghanistan hat ihr Kopftuch lose um den Kopf gewickelt, sie trägt ein modisches Jeanshemd. Sie meldet sich meist schneller als der Finger zum Aufstrecken hochfährt. «Hier ist mein kleiner Bruder in der gleichen Klasse wie ich. Das ist ungewohnt, in Afghanistan war das nicht so.»
Nach einem gemeinsamen Anfang, verteilen sich die Kindergärtler, die Mittel- und Oberstufenschüler auf verschiedene Räume. Tabea Lindauer bespricht mit den 13 älteren Schülern – bis auf zwei alles unbegleitete Minderjährige – das Thema Europa.
In der hintersten Bankreihe sitzen fünf Jugendliche aus Afghanistan. Ruhullah ist 17 Jahre alt. Er ist alleine über Pakistan, den Iran, die Türkei und den Balkan in die Schweiz geflüchtet. «Ich lese sehr gerne. Das hilft mir sehr beim Deutschlernen», sagt er. Manchmal sei es etwas langweilig in der Schule, dann, «wenn die Lehrerin vorne nur erzählt und ich zuhören muss. Ich mache lieber selber etwas, zum Beispiel zeichnen.»
Es klingelt, 10-Uhr-Pause. Die Kinder bleiben sitzen, malen die europäischen Flaggen aus. Lindauers Lehrerkollege Thomas Röthlisberger (37) sagt: «Diese Kinder sind dankbar und fleissig. In der grossen Pause müssen wir sie wirklich rausschmeissen, damit sie mal kurz mit dem Lernen aufhören.»
Dennoch hegen Lindauer und Röthlisberger beide noch Zweifel am neuen Konzept der altersdurchmischten Klasse. «Die Gemeinsamkeit ist einzig, dass sie alle Flüchtlingskinder sind», sagt Röthlisberger. «Wenn ein 10-jähriger nicht lesen kann, lernt er dennoch ganz anders als ein 17-jähriger Analphabet. Altersdurchmischtes Lernen ist äusserst anspruchsvoll umzusetzen und bringt kaum einen echten Mehrwert.» Lindauer nickt: «17-jährige Schüler haben ein Jahr Zeit, Deutsch zu lernen. Nachher können sie nicht mehr in die Schule.» Kindergärtner auf der anderen Seite hätten viele Jahre. «Bei ihnen kommt es nicht so sehr darauf an, wie viel sie in einer Woche lernen.»
Es ist kurz vor Mittag. Die Schulglocke läutet. Sherbatullah (15) bleibt noch im Zimmer. Er will ein Foto mit seinen beiden Lehrern machen. Er will es in seinem Schlafzimmer aufhängen. Sherbatullah lacht in diesem kurzen Moment zwischen Lindauer und Röthlisberger das Lachen eines stolzen, glücklichen Jugendlichen.