Wahid Yusif (52) streicht seiner Frau Hashish (34) über den Bauch. «Im August ist es so weit, wir bekommen ein Baby», sagt der Arzt aus Syrien. «Es wird schon wieder ein Mädchen.» Er betrachtet Fotos seiner vier Töchter. Sheihan (8) und Nurhan (6) blicken verlegen in die Kamera. Randa (10) trägt ein rotes Kleid, Kristina (2) kleine Maschen im Haar. «Ich denke jeden Tag an sie», sagt Wahid. «In der Nacht kann ich nicht schlafen. Weil ich immer noch Hoffnung habe, dass eine von ihnen am Leben ist.»
Am Nachmittag des 11. Oktobers 2013 sahen die Eltern ihre Kinder zum letzten Mal. SonntagsBlick berichtete einen Monat später über das tragische Schicksal der Familie. Die Yusifs flohen von Libyen nach Europa, um ein neues Leben aufzubauen. Doch das Schiff, heillos mit 450 Flüchtlingen überfüllt, kenterte. 100 Kilometer vor der rettenden Küste in Lampedusa (I). Wahid Yusif, seine Frau und seine Töchter können nicht schwimmen. «Es war ein grosses Chaos, ich verlor meine Familie aus den Augen», erzählt der Vater. Mit letzter Kraft klammerte er sich an die Schwimmweste einer toten Frau, die auf dem Wasser trieb. «Ich habe nach Armen von Ertrinkenden gegriffen, sie nach oben gezogen», erzählt er. «Aber meine Kinder waren nicht dabei.»
Die Küstenwache rückte aus. Wahid landete auf einem maltesischen Rettungsschiff, Hashish auf einem italienischen. Es dauerte drei Tage, bis sich die Eheleute in den Wirren der Auffanglager gefunden hatten. Sie kamen als Asylbewerber ins Durchgangszentrum Buch SH. Ohne zu wissen, ob ihre Kinder noch am Leben sind.
Die DNA abgegeben
Nach einem Monat der Lichtblick: «Ein Flüchtling von unserem Boot hat mich angerufen. Er habe gesehen, dass Sheihan gerettet wurde und auf ein Schiff der Küstenwache kam», sagt Wahid. «Seither bin ich sicher, dass sie lebt. Ich will sie um jeden Preis finden.»
Das Ehepaar wohnt heute in einer Wohnung in Neuhausen am Rhein SH. Der Arzt und seine Frau haben einen Ausweis der Kategorie F, sind vorläufig aufgenommen. «Es gefällt uns sehr gut in der Schweiz», sagt Hashish.
Doch sie und ihr Mann können sich nicht über den Ausländerausweis freuen. «Wer den Status F hat, darf die Schweiz nicht verlassen», sagt Wahid. Doch genau das will er. «Ich muss nach Italien, um die Kinder zu suchen. Die Polizei in Italien ist völlig überfordert mit den vielen Flüchtlingen. Wenn meine Töchter überlebt haben, würde ich es nicht einmal erfahren.» Das Ehepaar fühlt sich machtlos. «Warum dürfen wir unsere Kinder nicht suchen?»
Immerhin konnte Wahid ein Visum erkämpfen. Für 30 Tage durften die Eltern im November nach Italien. Flüchtlinge, Polizisten und Hilfsorganisationen nach den Kindern fragen, ihre Fotos herumzeigen. «Ich musste meine DNA abgeben. Damit könnten sie die Kinder identifizieren, wenn man sie findet.»
Nach einem Monat mussten die Yusifs zurück. Erneut tatenlos in ihrer Wohnung sitzen. «Wir brauchen den Schweizer Pass. Damit wir reisen und suchen können.» Der Vater versucht, per Telefon weiterzukommen, hat die Behörden von zehn Ländern informiert. Bisher ohne Erfolg. Das Rote Kreuz schrieb ihm im Januar einen Brief. Man habe alle Daten überprüft und keine Hinweise auf die vier Töchter gefunden. Es sei aber auch nicht auszuschliessen, dass sie noch leben.
«Das macht uns Mut», sagt Wahid. «Seit Hashish schwanger ist, haben wir wieder mehr Kraft und etwas Freude im Leben.»
Lina soll das Kind heissen. Ein Name, den keine seiner bisherigen Töchter trägt. «Weil wir immer noch daran glauben, sie irgendwann zu finden.» l
«Wir fühlen uns machtlos, können nichts für die Kinder tun»
Wahid und Hashish Yusif