Darum gehts
Als sie sich mit 33 zum ersten Mal seit Jahren übergeben musste, dachte sie, es sei eine harmlose Episode. Eine Magen-Darm-Grippe, nichts weiter. Doch dieser Moment sollte ihr Leben verändern. «Ich hatte einen Auftritt, fühlte mich im Kleid so unwohl, passte nicht in diese Form», erinnert sich Claudia S.* (55). «Nach dem Erbrechen ging es mir plötzlich besser», so die Musikerin.
Was zunächst wie ein unbedeutender Vorfall wirkte, entwickelte sich zu einer jahrzehntelangen Essstörung. Mit der Karriere kam der Druck, einem bestimmten Bild zu entsprechen. «Ich war erfolgreich, funktionierte nach aussen perfekt, aber innerlich driftete ich immer weiter weg von mir selbst», erzählt sie. «Es gab zwei Identitäten: die öffentliche Figur und die private Person. Je mehr Erfolg ich hatte, desto weiter entfernten sie sich voneinander.»
Verborgene Sucht
Nach aussen schien alles geordnet: Auftritte, Anerkennung, eine Beziehung, später eine Tochter. Doch die Bulimie, auch als Ess-Brech-Sucht bekannt, wurde zu einem geheimen Begleiter. «Ich habe mich immer mehr zurückgezogen. Mein Freund wusste davon, aber nicht vom Ausmass. Ich habe alle belogen – auch mich selbst.»
Ihre Essanfälle kamen meist abends, nach Konzerten. «Vor Auftritten war ich zu nervös zum Essen. Danach fiel die Spannung ab, und der Heisshunger kam. Ich fuhr zur Tankstelle, kaufte Sandwiches, Glace, alles, was mir in die Hände fiel. Danach ins Bett, mit dem Gedanken, dass es das letzte Mal war. Und dann fing alles wieder von vorne an. Typisches Suchtverhalten.»
In der Schweiz entwickeln laut dem Bundesamt für Gesundheit rund 3,5 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens eine Essstörung – Frauen deutlich häufiger als Männer. Etwa 2,4 Prozent der Frauen erkranken an Bulimie, 1,2 Prozent an Magersucht.
Nicht nur Junge betroffen
Essstörungen gelten vor allem als Teenager-Krankheit, als Problem von jungen Frauen. Und es stimmt: Essstörungen beginnen häufig im jungen Erwachsenenalter. Aber immer mehr Studien deuten darauf hin, dass zunehmend auch Frauen über 40 von Essstörungen betroffen sind und sich in Behandlung begeben. Das deutet darauf hin, dass zahlreiche Frauen noch Jahrzehnte später an den unbehandelten oder nur unzureichend behandelten Essstörungen ihrer Jugend leiden.
Dieses Phänomen kennt auch Bettina Isenschmid (63), Chefärztin am Zentrum für Essstörungen und Adipositas (ZESA) der SRO (Spital Region Oberaargau) in Langenthal BE. «Zwei Drittel derer, die im jungen Erwachsenenalter erkranken, bleiben bis ins mittlere und höhere Alter betroffen», erklärt sie.
In der Klinik würden sie aber auch immer wieder neue Fälle behandeln. Frauen, die erst mit 45 oder 50 erkranken. «Manche entwickeln die Störung erst, wenn die Kinder ausziehen oder nach einem einschneidenden Erlebnis, wie etwa einer Trennung oder dem Einsetzen der Menopause. Andere werden von der eigenen Tochter auf das Thema aufmerksam gemacht, die selbst in Behandlung ist.»
Auch Martina Papadellis, Fachberaterin bei der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES), betreut Frauen bis ins hohe Alter. «Meine älteste Klientin ist 69», erzählt sie. «Viele haben Familie, Kinder grossgezogen, jahrzehntelang funktioniert, und niemand wusste von der Krankheit.» Besonders schwierig sei die Therapie, weil Essen – anders als andere Suchtmittel – nicht gemieden werden könne: «Man muss sich täglich mit dem ‹Suchtstoff Essen› auseinandersetzen, und das bei jeder Mahlzeit. Das macht den Weg zur Heilung so anspruchsvoll.»
Manchmal braucht es einen Anstoss von aussen, um etwas zu verändern. Papadellis erinnert sich an eine Mutter, die seit Jahrzehnten mit einer Essstörung lebte. «Ihre Tochter war schwanger und sagte zu ihr: ‹Du wirst Oma und hast jetzt eine andere Verantwortung. Ich will nicht, dass meine Tochter mit dem Gleichen aufwächst wie ich.›» Erst diese Worte hätten die Frau dazu bewegt, sich erstmals stationär behandeln zu lassen.
Hürde für Therapie ist gross
Im Allgemeinen gilt: Je früher eine Essstörung diagnostiziert wird, desto grösser ist der Erfolg bei ihrer Behandlung.
Doch der Weg in die Therapie sei für ältere Betroffene oft besonders schwer, sagt Bettina Isenschmid. «Viele schämen sich. Sie glauben, sie müssten die Essstörung längst überwunden haben. Manche haben mehrere gescheiterte Therapien hinter sich, andere trauen sich gar nicht erst, Hilfe zu suchen.» Das Selbstwertgefühl sei häufig extrem niedrig.
Hinzu kommt, dass es zu wenige spezialisierte Therapeuten gibt. «Patientinnen, die seit Jahrzehnten krank sind, finden kaum jemanden, der mit ihrer Lebensgeschichte umgehen kann.» Ohnehin stehe bei älteren Betroffenen nicht mehr die vollständige Heilung im Vordergrund. «Aber die Lebensqualität kann immer noch verbessert werden.» Denn die Folgen langjähriger Essstörungen für den Körper sind gravierend. «Viele Frauen haben Osteoporose, Nierenprobleme oder schwere Mangelzustände, ohne es zu wissen. Ich habe Patientinnen, die 30 Jahre untergewichtig waren und erst mit 50 zum ersten Mal medizinisch abgeklärt wurden», sagt Isenschmid.
Schönheitsdruck in jedem Alter
Essstörungen können sich im Lauf des Lebens wandeln. «Ein ganzes Leben lang anorektisch zu bleiben, ist selten möglich», erklärt Isenschmid. «Viele durchlaufen verschiedene Phasen.» Aus einer Magersucht kann sich etwa eine Bulimie entwickeln oder ein wechselndes Muster aus Fasten, Erbrechen und Essanfällen mit starken Gewichtsschwankungen.
Zunehmend beobachtet sie auch postoperative Essstörungen nach Magenbypass-Operationen oder Gewichtsabnahme-Spritzen: «Manche Frauen entwickeln danach anorektisches Verhalten aus Angst, wieder zuzunehmen.» Auch der gesellschaftliche Druck verschärft das Problem. «Früher betraf der Schönheitsdruck vor allem junge Frauen. Heute sehen wir ihn in allen Altersgruppen», sagt Isenschmid.
Eine, die diesen Druck selbst erlebt hat und heute anderen hilft, ist Andrea Ammann (53). Sie litt fast zwanzig Jahre lang an Magersucht und Bulimie. 2004 stand sie an einem Punkt, an dem sie nicht mehr leben wollte, ihre beiden Töchter hielten sie davon ab. «Sie waren mein Anker. Ich wusste: Da muss es noch etwas geben, wofür es sich zu leben lohnt.»
Jahrzehntelang gefangen in der Sucht
Heute begleitet Ammann Betroffene als Coach und Mentorin. Mehr als die Hälfte ihrer Klientinnen sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, die älteste 67, darunter Ärztinnen, Therapeutinnen, Schauspielerinnen oder Frauen in Führungspositionen. «Einige leben seit über 40 Jahren mit einer Essstörung», sagt sie. «Viele sind verheiratet, erfolgreich im Beruf, und niemand weiss von ihrer Krankheit. Nach aussen funktionieren sie perfekt, innerlich kämpfen sie jeden Tag gegen sich selbst.»
In ihrer Arbeit setzt sie nicht auf Kontrolle oder Verbote, sondern auf Achtsamkeit und Selbstermächtigung. «Zuerst müssen die Frauen wieder eine Verbindung zu ihrem Körper herstellen und ihre Muster erkennen, erst dann kann echte Veränderung entstehen.» Ihr Ziel: eine neue Form von Disziplin. Eine, die nicht missbräuchlich und hart gegen sich gerichtet ist, sondern eine Disziplin der liebevollen Selbstfürsorge.
Geschafft mit 51
Für Claudia S. kam mit 51 die Wende. «Ich hatte Respekt vor meiner Tochter – und die Erkenntnis, dass es so nicht weitergeht.»
Andrea Ammann war für sie die Rettung. «Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, es gibt wirklich eine Lösung. Andrea hat immer gesagt: ‹Es geht. Du schaffst das.› Das hört man selten, vor allem nicht als Erwachsene. In den Medien sieht man Teenager, die wieder gesund werden. Aber bei uns, wo der Alltag seit Jahrzehnten von dieser Sucht durchdrungen ist, ist das viel schwieriger.»
Die Gruppensitzungen hätten ihr neuen Mut gegeben. «Dort habe ich gemerkt, dass ich nicht alleine bin. Es gibt so viele Frauen, die betroffen sind. Viel mehr, als man denkt.»
Heute fühlt sie sich geheilt. «Ich bin keine neue Person, aber ich bin frei. Die Krankheit hat mich geprägt, aber sie bestimmt mich nicht mehr.» Ihr Perfektionismus sei geblieben, aber weicher geworden. «Ich esse heute genauso viel wie früher. Der Wunsch, schlank zu sein, ist da, aber er kontrolliert mich nicht mehr.»
Für Bettina Isenschmid ist genau das die entscheidende Botschaft. «Auch wenn die Krankheit Jahrzehnte dauert, ist Veränderung möglich.» Zwar nicht immer eine vollständige Heilung, aber ein besseres Leben.
* Name geändert
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