Anna Leiser* (49) ist müde. Jahrzehntelang hat sie als Kinderbetreuerin gearbeitet. Mit grosser Leidenschaft. Aber auch unter grossem Leidensdruck. In der Branche sind die Arbeitsbedingungen hart: viel Verantwortung, wenig Lohn, kaum Wertschätzung und fast nie genügend Personal.
Eine Umfrage des Schweizerischen Verbands des Personals öffentlicher Dienste, kurz VPOD, unter Kita-Angestellten ergab kürzlich, dass knapp 70 Prozent der Befragten die Kindergruppen als zu gross empfinden. Fast 60 Prozent gaben an, in ihrer Kita herrsche Personalmangel. Die Folgen: 80 Prozent fühlen sich bei der Arbeit gestresst, 60 Prozent waren im Umgang mit den Kindern schon ungewollt laut oder unfreundlich.
Jede zweite Angestellte mit Schlafstörungen
Auch die Gesundheit der überwiegend weiblichen Betreuenden leidet unter den prekären Arbeitsbedingungen, denen laut VPOD vor allem die «chronische Unterfinanzierung der ausserfamiliären Kinderbetreuung» zugrunde liegt.
Verbreitet sind Kopfschmerzen (64 Prozent) und emotionale Erschöpfung (63 Prozent). Jede zweite Kita-Angestellte klagt zudem über Schlafstörungen und Schmerzen im Schulterbereich. «Bedenklich ist auch, dass sich ein Viertel aller Befragten im Zusammenhang mit ihrer Arbeit in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung befindet», sagt Natascha Wey (40), stellvertretende Generalsekretärin des VPOD. 40 Prozent planen gar, wegen der gesundheitlichen Belastung den Beruf zu wechseln.
An ihrem Parteitag am 5. Februar entscheiden die Schweizer Sozialdemokraten über die Lancierung einer Kita-Initiative. Diese will die Kantone verpflichten, eine bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle sicherzustellen. Ausserdem sollen die Arbeitsbedingungen der Betreuenden verbessert werden. Für zwei Drittel der Betreuungskosten soll künftig der Bund aufkommen, den Eltern sollen höchstens noch zehn Prozent ihres Einkommens berechnet werden. Der Unterschriften-Sammelstart ist für März angedacht.
An ihrem Parteitag am 5. Februar entscheiden die Schweizer Sozialdemokraten über die Lancierung einer Kita-Initiative. Diese will die Kantone verpflichten, eine bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle sicherzustellen. Ausserdem sollen die Arbeitsbedingungen der Betreuenden verbessert werden. Für zwei Drittel der Betreuungskosten soll künftig der Bund aufkommen, den Eltern sollen höchstens noch zehn Prozent ihres Einkommens berechnet werden. Der Unterschriften-Sammelstart ist für März angedacht.
Durch die Pandemie hat der Druck aufs Kita-Personal weiter zugenommen. «Die Arbeit ist komplexer geworden – bei gleich bleibendem Personalbestand», sagt Wey.
Das bestätigt Lisa Plüss (54), Geschäftsleiterin der Stiftung Kindertagesstätten Bern, zu der sieben Kitas im Raum Bern gehören. «Die Betreuung von Kleinkindern mit Maske, die sich ständig ändernden Vorgaben, aber vor allem die vielen Ausfälle und das ständige Improvisieren hat alle sehr müde gemacht. Es ist gut spürbar, dass die Arbeit unter diesen Bedingungen die Mitarbeitenden auslaugt.»
Risiko: Covid-Ansteckung
Hinzu kommt: «Das Risiko, sich bei der Arbeit anzustecken, war für das Kita-Personal immer erhöht», sagt Plüss. Kleinkinder können keine Masken tragen, auf Distanz gehen ist nicht möglich. Plüss weiter: «Es erfordert viel Energie und Durchhaltevermögen, um trotz lauernder Ansteckungsgefahr mit den Kindern möglichst unbeschwerte Tage zu verbringen.»
Trotzphase ist der Name einer Gruppe von Kinderbetreuenden, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Branche einsetzen. Nach ihrer Darstellung fühlen sich viele Angestellte zu wenig geschützt. «Es kommt immer wieder vor, dass Kinder, die wahrscheinlich positiv sind, in die Kita geschickt werden. Es ist sehr belastend, dem täglich ausgeliefert zu sein.» Zudem würden bis heute keine Daten zum Infektionsgeschehen in den Kitas erhoben. «Einmal mehr gehen wir vergessen», fasst Trotzphase zusammen.
Massenhaft Personalausfälle
Omikron bringt die Kitas nun erst recht an ihre Grenzen. Aktuell fällt reihenweise Personal aus. Ersatz gibt es kaum. «Der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet», sagt Markus Marti (60), Leiter der Kita Riedtli in Zürich. «Und einen Springerpool wie an den Schulen gibt es bei uns nicht. Eine gute Betreuung aufrechtzuerhalten, wenn jemand fehlt, klappt wegen des sowieso schon knapp berechneten Stellenschlüssels kaum.»
Laut Trotzphase tragen jene, die nicht ausfallen, die ganze Arbeitslast: «Wir springen an eigentlich dringend benötigten Ruhetagen ein, machen weniger Pausen, bleiben länger. Viele sind kurz vor der Überarbeitung.»
Endlich systemrelevant
Auch für Priska Gehring-Hertli (63), Geschäftsführerin zweier Kinderkrippen in Zürich, ist die Pandemie eine Grenzerfahrung. «Vor 25 Jahren habe ich meine erste Kita eröffnet. Was seit März 2020 über uns hereingebrochen ist, hätte ich niemals erwartet», sagt sie. «Mein Team leistet sehr grossen Einsatz.»
Immerhin habe die Pandemie den Wert der vorschulischen Kinderbetreuung ins Zentrum gerückt. Gehring-Hertli: «Wir gelten nun endlich offiziell als systemrelevant. Nun wäre es äusserst wichtig, dass die frühkindliche Bildung und Betreuung von der Politik nachhaltig gestärkt wird, damit wir nach der Corona-Krise keine Betreuungskrise haben.»
Eine solche bahnt sich nämlich bereits an. «Es rumpelt in vielen Kitas», sagt Gehring-Hertli. Und Trotzphase hält fest: Die Fluktuation in der Branche sei zwar schon immer hoch gewesen, aktuell aber würden besonders viele Arbeitskräfte verheizt.
Auch für Anna Leiser ist bald Schluss. Sie hat sich entschlossen, ihren Job an den Nagel zu hängen, sobald in Sachen Corona das Gröbste vorüber ist. Nicht weil sie den Beruf nicht lieben würde, sondern weil sie keine Kraft mehr dafür hat.
* Name geändert