Erfolgsautorin Stefanie Stahl verkauft Millionen von Büchern
Jetzt kommt Kritik auf an der deutschen Star-Psychologin

Ratgeber, Podcasts, Zeitungsartikel – Psychologie liegt im Trend. An der Spitze: Stefanie Stahl (59), Deutschlands erfolgreichste Psychologin. Ein Besuch ihrer Veranstaltung in Bern zeigt, warum: Sie macht grosse Versprechen. Und weiss, wie man sich gut verkauft.
Publiziert: 07.01.2023 um 12:31 Uhr
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Aktualisiert: 11.01.2024 um 16:02 Uhr
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Er denke zu viel. Grüble, wenn man so wolle. Ungesund. Das wisse er, aber wenn es einmal anfange zu rattern, rattere es durch. Ein Zwang. Marco, so sein Name, rutscht auf der Sitzfläche hin und her, zupft an den Holzkügelchen, die sich um sein Handgelenk schmiegen. Marco wartet. Wartet auf die Frau, nach der sich in diesem eng bestuhlten Raum in einem Berner Seminarhotel alle sehnen: Stefanie Stahl. Die bekannteste Psychologin Deutschlands. Doch erst will er noch etwas loswerden: «Ihr Frauen seid uns weit voraus. Habt feinere Antennen.» Männer müssten sich den Zugang zu ihren Gefühlen hart erkämpfen. Ganz klar: unfair.

Probleme lösen, aus alten Mustern raus, inneren Frieden – das suchen die Seminarteilnehmerinnen.
Foto: Getty Images

Marco kämpft. Einer von ganz wenigen Männern an diesem Samstag. Doch hat er viel mit den Frauen hier gemein: Er will aus alten Mustern ausbrechen. Probleme loswerden. So wie die Frau mit den kurzen Haaren, die eine Scheidung hinter sich hat und nun nicht mehr mit angezogener Handbremse leben will. Oder jene mit der leisen Stimme, die immer an den Falschen gerät. Und die mit dem Seidenfoulard, die aus der Nettes-Mädchen-Rolle rauswill und schlecht Nein sagen kann. Auf diesem Tag mit Stefanie Stahl ruhen ihre Hoffnungen. Dafür zahlen sie 220 Franken. Marco sagt: «Wenn ich heute einen Schritt weiter komme, bin ich happy.» Die Shirt-Aufschriften der Frauen, die am Eingang die Geldscheine einkassieren, lassen es schon erahnen: «Alles ist möglich». Sie gehören zum Esoterikverein, der die Veranstaltung organisiert.

Psychotherapeutin und Erfolgsautorin: Stefanie Stahl.

Stahl ist ein Profi

Kurz nach zehn Uhr tritt Stefanie Stahl (59) vor die vollen Sitzreihen. Die Luft ist zum Schneiden dick, ihr Gesichtsausdruck verrät: Gefällt mir nicht. Doch Stahl ist ein Profi, ringt sich zu einem Lächeln durch, sagt: «Ihr Lieben!» Und erklärt: «Wir sind gar nicht so kompliziert aufgebaut.» Das Hirn sei eine Software. Werde durch die Erfahrungen in den ersten Lebensjahren geprägt. Diese könne man neu programmieren. Dabei will sie helfen. So sieht sie ihren Job. Sie sagt: «Es geht mir darum, dass wir bessere Menschen werden.»

Ähnlich steht es in ihrem Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden». Darin beschreibt die Psychotherapeutin mit Metaphern wie dem «inneren Kind», dem «Sonnenkind» und dem «Schattenkind», wie positive und negative Kindheitserfahrungen spätere Beziehungen prägen. Das Buch ist ein Hit. 2,4 Millionen Mal wurde es verkauft. In der Schweiz steht es seit Jahren an der Spitze der Sachbuch-Bestsellerliste. Im Herbst legte sie mit ihrem Buch «Wer wir sind» nach, das in Deutschland gleich auf den vorderen Bestseller-Plätzen eingestiegen ist. Hinzu kommen ein Youtube-Kanal, zwei Podcasts und eine Deutschland-Tour mit einer Psychologie-Show mit auch schon mal 10’000 Zuschauern. In einem Interview mit dem SonntagsBlick-Magazin im letzten Frühling sagte sie: «Die Podcasts mache ich, weil sie mir Spass bringen und erfolgreich sind.»

Stahl ist so gefragt wie die letzte Cola in der Wüste. Die deutschen Medien sind Fan von ihr. Kaum eine kritische Zeile gibt es, im Gegenteil: Für das Magazin «Stern» ist sie «die Angela Merkel unter den Autorinnen». Nicht umsonst: «Stern», «Welt», «Die Zeit» – sie alle versorgt die Psychologin mit Kolumnen und Ratgeber-Formaten. Und die Medien sind ihr treu: Am Tag in Bern stellt sie «den Stefan vom ‹Stern›» vor, der sie für ein Porträt begleitet. Und an der Frankfurter Buchmesse im Herbst, der wichtigsten Deutschlands, hastete sie von einem Interview zum anderen, sagte dazu in einem Video auf Instagram: «Davon habe ich immer geträumt.» Stefanie Stahl aus Trier ist dort angekommen, wohin es keine Psychologin im deutschsprachigen Raum vor ihr geschafft hat: ganz oben. An der Spitze eines Trends. Und der ist längst auch in der Schweiz angekommen.

Eine gefragte Frau: Auf der Frankfurter Buchmesse gab sie viele Interviews.
Foto: imago/Hannelore Förster

Der Psycho-Trend durchdringt die Gesellschaft

Ein KV-Angestellter, eine Pflegefachfrau, eine Lehrerin – im Berner Seminarraum hockt ein Querschnitt der Gesellschaft. Die Menschen beschäftigen sich wie nie zuvor mit ihrem Innenleben. Früher tat man das heimlich auf der Couch beim Therapeuten – wenn überhaupt. Heute schlägt sich der Trend auf dem Ratgebermarkt, in Zeitungen und in Bargesprächen nieder. Die Psychologisierung durchdringt alle Bereiche des Lebens. Auch unsere Sprache: Trauma, Trigger, toxisch – Psycho-Slang ist alltäglich geworden. So wie Betroffenen-Coming-outs. Influencer labeln ihre Profile mit «mentally ill» oder «mental health», erzählen in Instagram-Videos von ihrer Behandlung, als wäre sie ein neues Hobby. Und über Rapper Stress’ schwierige Kindheit und Depressionen kam gerade ein Buch heraus. Das kann vielen helfen, ist nicht nur schlecht. Aber: Es ist da, und das immer und überall.

Psychologie ist omnipräsent. Lässt sich anklicken, streamen und kaufen. Sie ist zum Konsumgut geworden. Funktioniert nach den Regeln des Marktes: Angebot reagiert auf Nachfrage, die Nachfrage ist riesig. Und Stefanie Stahl liefert. Was steckt hinter ihrem Erfolg?

Stahl ist ein Star zum Anfassen, sie ist per Du, auf ihrer Website unterschreibt sie mit «Deine Steffi», wie eine gute Freundin. Eine, die sich einiges traut. Zwölf Bücher hat sie schon geschrieben. Sie gehörte zu den Psychotherapeutinnen im deutschsprachigen Raum, die damit anfingen. Und das ist das andere Geheimnis dieser Frau. Stahl verkörpert, was so viele sein wollen: eine selbstbewusste Frau. Das klingt als O-Ton so:

«Stern»: «Mein neues Buch ist wirklich richtig gut. So etwas gab es vorher nicht.»

«Tages-Anzeiger»: Wahrscheinlich gebe es «Hunderttausende von Menschen, die draussen rumlaufen und denen ich geholfen habe».

Aus dem Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden»: Stahl habe «eine Problemlösestruktur entwickelt», (…) «mit der du fast alle Probleme lösen kannst».

Was will sie damit sagen? Was mit ihren Büchern erreichen?

Zwölf Bücher hat Stahl geschrieben.

Video-Anruf bei Stefanie Stahl. Sie sagt: «Ich gebe den Menschen den roten Faden.» Einen Bauplan der Psyche. Sie will helfen, die frühe Kindheitsprägung zu reflektieren. Ihr Ansatz: Wenn man versteht, woher man kommt, kann man freiere Entscheidungen treffen. «Stopp!» sagen, sich anders verhalten, sozial verträglicher. Man sei nicht mehr «Sklavin des eigenen Gehirns». Sie sagt: «Hätte die Menschheit früher damit angefangen, hätten wir heute eine viel bessere Welt.»

Gegenwind von Kollegen

Heilung im grossen Stil. Wir haben zwei Experten, die Stahls Arbeit kennen, gefragt, was sie davon halten: Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler und Psychologe, sowie Daniel Strassberg, Zürcher Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ihr Fazit: kritisch.

Lutz Jäncke sagt: «Veränderung geht nicht mit einem Fingerschnippen, sie ist unfassbar schwierig zu erreichen.» Das Gehirn brauche Struktur und hasse wie der Teufel das Weihwasser Chaos, deshalb halte es an alten Mustern fest. Veränderung sei möglich, sagt er. «Aber nur durch unzählige Wiederholungen, durch stetes Andersmachen und -denken.»

Der emeritierte Professor für Neuropsychologie: Lutz Jäncke.
Foto: Philippe Rossier

Daniel Strassberg argumentiert ähnlich: «Die meisten Menschen können ihre Muster nicht durchbrechen.» Das verschwiegen Ratgeberautoren oft. Es habe etwas Unmoralisches, die Menschen mit der Illusion zu versorgen, es sei ganz einfach, seine Muster zu verändern. Doch die Illusion zieht. Gerade in diesen Zeiten. Das weiss er von seiner Praxis, die er bis vor kurzem führte: Früher hätten die Weltereignisse die Menschen weniger beschäftigt, in den letzten Jahren seien sie wegen Covid, Klimakrise und Krieg verunsicherter denn je. In diese Lücke springe Stahl. «Ihre Bücher trösten.» Hinzu kommt, so Strassberg: «Ihre Bücher sind von einer erschreckenden Banalität.» Sie habe sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient und sie bis zur Unkenntlichkeit trivialisiert.

Kritischer Psychoanalytiker: Daniel Strassberg.

Stefanie Stahl widerspricht: Sie lege die Strukturen der menschlichen Psyche offen. «Das verwechseln manche mit Vereinfachung.» Deshalb könnten so viele Menschen etwas damit anfangen. Sie sagt auch: «Der Ansatz mit dem inneren Kind ist nicht neu.» Doch sie habe daraus ein neues Konzept kreiert, unter anderem, indem sie dem verletzten inneren Kind, also dem Schattenkind, als Vision des geheilten Selbst das Sonnenkind entgegensetze.

Die Kritik prallt in Bern an der Saaltüre ab. Die Aussenwelt verblasst. Im Hier und Jetzt zählt nur eines: die eigene Innenwelt. Gerade noch malten alle mit Buntstiften ihre inneren Kinder auf Papier und füllten sie mit Sätzen zu ihren Kindheitserfahrungen. Nun sucht Stahl Freiwillige. Eine Frau mit Dutt schleicht scheu nach vorne und überreicht der Psychologin ihren Zettel. Stahl wendet sich an das Publikum: «Ihr öffnet nun alle eure Herzen und hört zu.» Dann legt sie ihre Hand auf die Schulter der Frau, sagt: «Oje, mein armes Mäuschen. Mama war immer gestresst. War so unnahbar. Und du hast dich immer abgelehnt gefühlt.» Die Frau blickt zu Boden, schweigt. Stahl streichelt über ihre Schulter, fährt weiter: «Da war sehr wenig Liebe. Das war nicht deine Schuld.» Und im Publikum wischt sich jemand Tränen von der Wange.

Die grosse Frage am Seminartag in Bern: Wie hat mich meine Kindheit geprägt?
Foto: Getty Images/EyeEm

Auf Einladung von Esoterikern

Die Beschäftigung mit dem Selbst. Der Glaube an das Individuum. Das ist der Kern unseres Zeitgeistes. Und daher rührt der Siegeszug der Psychologie. So wie jener der Esoterik. Obwohl die beiden weit auseinanderliegen – Psychologie basiert auf Wissenschaft, Esoterik auf Glauben –, prallen sie an diesem Samstag in Bern aufeinander. Stefanie Stahl ist auf Einladung des Esoterik-Netzwerks «Die Quelle» gekommen. So wie vor ihr der Baselbieter Historiker Daniele Ganser, der suggeriert, dass Terroranschläge inszeniert und jene vom 11. September 2001 in den USA nicht von Al Kaida verübt worden seien. Eine bekannte Verschwörungstheorie. Oder das selbsternannte Toggenburger «Medium» Christina von Dreien, das das esoterische Märchen verbreitete, das Coronavirus sei von dunklen Mächten in die Welt gesetzt worden.

Auch der Gründer von «Die Quelle» hat einen direkten Draht zur übersinnlichen Welt: Auf seiner Website preist der Berner Patric Pedrazzoli eine 21-tägige Fernheilungsbehandlung an, die auch dann wirke, wenn sich jemand auf einem anderen Kontinent befinde – das würden wissenschaftliche Untersuchungen zeigen. Dazu braucht er einzig ein Foto der Betroffenen. Was dort auch steht: «Mögliche Heilung für alle Krankheiten», darunter: «Krebs». Fest steht: alles Unsinn. Gegenüber dem Newsportal Zentralplus bestritt er im August den Vorwurf, Heilversprechen abzugeben. In einer Stellungnahme an die Plattform schrieb er: «Ich bin für die Schulmedizin und alternative Heilungen.»

Stefanie Stahl distanziert sich von alldem, sagt: «Ich bin null spirituell und esoterisch.» Und mit Verschwörungstheoretikern wie Daniele Ganser habe sie nichts zu tun.

Auch die Frauen und Männer im Saal nicht. Sie wollen nur eines: an sich arbeiten. Gegen Ende des Tages stürmen sie zum Büchertisch, decken sich ein, fahren beglückt mit gefüllten Taschen nach Hause. Der Einzige, von dem jede Spur fehlt: Marco.


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