Vor einem Monat verkündete Alain Berset (49): «Die Pandemie hat ihren Schrecken verloren.» Die Fallzahlen sanken, immer weniger Personen landeten im Spital. Per 17. Februar 2022 hob der Bundesrat die meisten Corona-Massnahmen auf. Die Schweiz atmete zwei Jahre nach den ersten Covid-Fällen endlich wieder auf.
Doch die Omikron-Variante zirkulierte weiter. Nun ist eingetroffen, was erwartet wurde: Die Infektionen nehmen stark zu. Vom 1. bis 17. März wurden in der Schweiz 436'740 Corona-Fälle registriert. 17 Tagen vorher waren es 330'843. Eine Erhöhung von über 30 Prozent!
Auch Hospitalisierungen steigen
«Die Zahlen steigen sehr schnell», sagt Tim Julian (40) vom Eawag. Er analysiert mit seinem Team das Abwasser von Schweizer Kläranlagen. Dort lassen sich Corona-Viren nachweisen. «Unsere Daten stimmten bisher gut mit den bestätigten Corona-Fällen überein, auch wenn es ein paar Tage Unterschied geben kann.»
Das gleiche Bild in den Spitälern: Bis zum 26. Februar sank die Zahl der Corona-Patienten, seither stieg die Kurve wieder an. Seit dem 1. März werden fast täglich mehr als 100 neu Hospitalisierte gemeldet.
Omikron schützt kaum vor Neu-Infektion
Blick-Recherchen zeigen: Nebst den Lockerungen gibt es zwei weitere Gründe, warum die Zahlen steigen. Ungefähr gleichzeitig mit der Lockerung der Massnahmen wurde eine neue Omikron-Variante dominant: BA.2 löste BA.1 als am weitesten verbreitete Virusart ab. Das zeigt sich in der Sequenzierung der vom Eawag und ETH Zürich erhobenen Abwasserdaten.
Den zweiten Grund liefert Didier Trono (65): «Eine Infektion mit Omikron scheint nur einen geringen Schutz gegen eine erneute Omikron-Infektion zu bringen – und erst recht nicht gegen andere Varianten!» Der Virologe der ETH Lausanne erklärt: Da Omikron weniger Symptome hervorrufe, produziere der Körper weniger Antikörper. Dazu hat Omikron nur wenige Ähnlichkeiten mit den anderen Varianten. Dadurch würden die gebildeten Antikörper die anderen Varianten schlecht erkennen. In Kürze will er eine Studie dazu veröffentlichen. Trono: «Der Traum von einer Herdenimmunität durch Massenansteckung ist geplatzt.»
Vierte Impfung frühestens im Herbst
Müssen wir uns jetzt Sorgen machen? Zumal Impfchef Christoph Berger diese Woche im Blick sagte, dass eine vierte Impfung frühestens im Herbst empfohlen wird? Trono verneint dies, da BA.2 nicht gefährlicher sei als BA.1, und Omikron weniger gefährlich sei als seine Vorgänger. Das wird auch von den Zahlen aus den Intensivstationen gestützt. Dort liegt derzeit ungefähr jeder sechste Patient wegen Corona. Vor der Aufhebung der Massnahmen war es fast jeder dritte.
Doch Vorsicht: Bei so viel mehr Fällen reicht auch ein geringer Prozentsatz aus, um das Gesundheitssystem zu belasten. Ein Rechenbeispiel: Wenn von zehn Delta-Patienten einer mit Corona und von hundert Omikron-Patienten ebenfalls einer ins Krankenhaus eingeliefert wird, muss Omikron zehnmal ansteckender sein, damit die Situation die Gleiche ist wie bei Delta. «Ein solches Szenario ist durchaus realistisch», so Trono.
Strategie des Bundesrats geht bisher auf
Doch der Vergleich mit Dänemark macht Hoffnung: Dort begann die BA.2-Welle etwa einen Monat früher als bei uns. Die Fallzahlen stiegen stark an, auf den Intensivstationen blieb es aber verhältnismässig ruhig.
«Möglich, dass die Situation in der Schweiz ähnlich ist», sagt Trono. In diesem Fall hätte der Bundesrat recht. Denn für ihn ist die Anzahl der Patienten auf der Intensivstation seit langem der wichtigste Parameter im Kampf gegen die Pandemie. Aber ist das auch vernünftig? Das sei die von den Politikern gewählte Haltung, meint Trono. «Uns fehlen Daten, um die Auswirkung dieser grossen Anzahl von Infektionen vorherzusagen.» Etwa, was dies für Long Covid bedeuten könne.