«Ohne Bewegtbild kann ich nicht leben.» Madeleine Baumann (69) sitzt in der Kabine des Kassenhäuschens, spricht durch ein kleines rundes Fenster in der Frontscheibe zur Journalistin. Und weil der Ton nur dumpf zu dieser durchdringt, was in einem Kino gar nicht geht, steht sie auf, verlässt die Kabine. Will ihr zeigen, was sie meint. Und geht auf zwei vergilbte Plakate mit Idolen zu: Charles Bronson (1921-2003) mit Cowboyhut und Bruce Lee (1940–1973) mit gereckten Fäusten. Baumann hebt ihren Kopf, als grüsste sie zwei alte Bekannte. «Wahnsinnsschauspieler.»
Madeleine Baumann lebt für zwei Leidenschaften: Schiessen auf 300 und 50 Meter, sie war die erste Frau an der Spitze der Schützengesellschaft Lenzburg. Und Kino. Filme begleiten sie überall mit hin. Auch jetzt, als sie auf Bronson zeigt, schwallt es aus ihr heraus: «Haben Sie ‹Spiel mir das Lied vom Tod› gesehen?» Und schon steckt sie mitten drin in der Handlung. Filmwelt und echte Welt – sie überlagern sich ständig.
Bevor sich Madeleine Baumann wieder ins Kassenhäuschen vor die perforierten Billettblöcke setzt, guckt sie noch einmal zu den beiden Schauspielern rüber, als dächte sie: Was wäre ich ohne sie? Oder besser: Wer? So geht es uns allen im Kino: Schlägt sich die Dunkelheit über den Saal, schaltet man sich selbst aus, stirbt vorläufig, um im Film wiedergeboren zu werden, als Heldin, Scheusal, Geliebter. Was wären wir ohne diese Perspektive? Überhaupt: ohne das Kino?
Familienbetriebe stemmen sich gegen die Krise
Seit vielen Jahren sagt man den Lichtspielhäusern das Ende voraus. Fernsehen, Videokassette, DVD, Streamingdienst und nun auch noch die Pandemie – Kino ist ein Krisengeschäft. Aber nicht totzukriegen. Und das liegt auch an einer ganz bestimmten Sorte von Betrieben: Familienunternehmen. So wie jenes der Baumanns, «Buume», wie man in Lenzburg AG sagt, dazu gehören: Vater André, Mutter Madeleine, Sohn André und Sonja, die Schwester des Vaters. Sie führen die Kinos Urban und Löwen, mit je einem Saal. Letzteres gibt es, seit in den Zwanzigern die Schauspieler im Film eine Stimme bekamen. Die Baumanns trotzen harzigen Zeiten mit etwas, was Netflix nicht bietet: Nostalgie. Geborgenheit. Liebe zum Detail.
Es ist Samstag im Urban, und Kino-Tag in der Schweiz, die Uhr im Foyer zeigt viertel vor fünf. Die Abspannmelodie des Kinderfilms «Mumien» dudelt heiter im Hintergrund. In einer halben Stunde läuft der nächste: «Die drei ???». Am Abend «Ant-Man and the Wasp: Quantumania» – eine Marvel-Comic-Verfilmung. Und der Versuch, in Lenzburg durch Blockbuster mitzuhalten. «Avengers», «Spider Man», «Iron Man» – die Marvel Studios sind eine Hit-Maschine, doch abseits der grossen Städte bleiben zumindest bei «Ant-Man» die Säle fast leer. Madeleine Baumann sagt: «Das kann es geben.» Sie gerät nicht in Panik. Das hat sie beim Schiessen gelernt: Ruhe bewahren. Das half der Familie durch die Pandemie, zu der sie nun sagt: «Wir sind noch da. Und bleiben es.»
Und wie. Der Teppichboden ist fuselbefreit, die Sitze entkrümelt. Sonja Baumann (73) steigt noch hurtig im Kurzarm-Übergwändli die Treppe hoch in den ersten Stock, die Balkonetage, leert die blauen Frisco-Abfallkübel. Ihr Grossvater baute das Unternehmen auf, sie wuchs mit dem Kino auf und mit. Erinnert sich daran, dass damals «bei ‹Dick und Doof› die Untertitel «abhauten», weil das Leinwandformat nicht mit jenem des Films übereinstimmte. Erlebte, wie die Eltern Anfang der Fünfzigerjahre die Urban-Bühne umbauen liessen, weil das breite Cinemascope-Format Einzug hielt. Der erste Ton, die ersten Farben, neue Bildformate, Digitalisierung – in all den Jahren brachten die Baumanns den Fortschritt in das Aargauer Städtchen. Und der machte viel mit den Zuschauern. In Lenzburg und auf der ganzen Welt.
Das Kino hat den Menschen verändert, beeinflusste von Anfang an, wie wir die Welt wahrnahmen. Der deutsche Filmkritiker Michael Althen, beschrieb das in seinem Buch «Warte, bis es dunkel ist» so: «Das Kino hat den Menschen eine Sprache aufgedrängt, die sie auf Teufel komm raus lernen mussten. Eine Art Weltsprache, ein Esperanto der Augen.»
1895 filmten die Franzosen Auguste und Louis Lumière die Ankunft einer Dampflokomotive im Bahnhof von La Ciotat. Als sie die Aufnahmen vorführten, die erste Schau überhaupt, bekamen die Zuschauer noch Angst, schrien entsetzt auf, duckten sich unter die Sitze oder flohen aus dem Saal – so ist es überliefert. Hätten sie im Bahnhof selbst gestanden – es hätte sie nicht gerührt. So aber wussten sie nicht, was da vor und mit ihnen passierte. Für sie war das Abbild viel bedrohlicher als die Wirklichkeit.
Dieses Erbe, das heute noch wie ein Echo über der Realität liegt, bewahren Betriebe wie jener der Baumanns.
Zeitreise in die Fünfziger
Das Urban in Lenzburg atmet Geschichte. Besonders sein Saal: 326 braune Lederfauteuils, eine Bühne mit Blumendekors und Leinwand, die orange Leuchtröhren einrahmen und ganz wichtig: Von der Decke hängt ein bodenlanger Vorhang, der sich kurz vor der Vorstellung scheu zurückzieht und Platz für den Film macht. Und man fühlt sich wie der junge Marty McFly, der im Film «Zurück in die Zukunft» mit einem DeLorean-Sportwagen durch die Zeit reist und plötzlich in den Fünfzigern landet.
Aus jener Epoche stammen die drei 35-Millimeter-Projektoren, grosse Ungetüme, die unter dem Dach, im Vorführraum, vor Fensterchen hin zum Saal stehen, als wären sie Spanner. Voll funktionsfähig. Sie gehören zur Sammlung von Vater Baumann, der gerade ein paar Hundert Meter entfernt im Löwen arbeitet. Sind Zeugen jener Zeit, als der Filmvorführer noch einen Namen hatte: Operateur. Vor jeder Vorstellung musste er den Film erst von mehreren Rollen zusammenbauen, bevor er ihn beim Projektor einfädeln konnte. Und was er vor allem musste: bei ihm bleiben. Zu ihm schauen. Das ist vorbei. Heute kann André Baumann (junior, 40) den digitalen Projektor notfalls auch von Spanien aus mit dem Handy anwerfen – alles schon passiert.
Als Bub stand er oft im Vorführraum, war der jüngste Operateur im Haus, manchmal zeigt er heute noch Filme wie «My Fair Lady» mit Audrey Hepburn (1929-1993). Geblieben ist: Seine Faszination für Technik. Das zeigt sich im Saal, kurz vor Filmbeginn. Von den Sitzen baumeln Kinderbeine herab. Nur Baumann steht mit Hoodie und Turnschuhen auf dem Balkon, sagt: «Jetzt kommt eine heisse Sache.» Langsam erlischt das Licht, öffnet sich der Vorhang, blenden die orangen Lichtröhren ab, leuchtet die Leinwand auf – das hat er aufeinander abgestimmt. «Dieser Fluss ist wichtig», sagt er. Sonst fehle die Magie. Und die fehlt heutzutage oft im Kino, meist sitzen wir auf einen Schlag im Dunkeln und hängen mitten im ersten Werbespot drin, bevor wir realisiert haben, dass es losgeht. Baumann will sich davon abheben, sagt: «In dieser Sache bin ich ein Tüpflischiisser.»
Das Kino ist ein Kulturgut
Auch deshalb gibt es Häuser wie das Urban noch. Die Baumanns pflegen das Kino als das, was es ist: ein Kulturgut. Eine Stätte, die uns eine einmalige Welt eröffnet. Regisseur Steven Spielberg (76) sagte es jüngst in einem «Spiegel»-Interview so: «Der Beginn des Kinos war der Beginn der Revolution unserer globalen, kollektiven Imagination.»
Jeder Film erzählt etwas darüber, wie die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt beschaffen ist. Und wonach sie sich sehnt. Wie die Autos aussehen, welche Kleider man trägt, oder wie man redet und liebt. Und wenn wir für einen Moment die Augen schliessen und uns dem Strom der inneren Bilder überlassen, dann sehen wir uns plötzlich selbst darin. Sehen, was alles möglich ist. Ein Funken springt über. Und kann in einen Flächenbrand, eine Revolution übergehen.
Ist das ohne diesen grossen dunklen Bauch, der uns einsaugt und total absorbiert, unseren Fokus für all die Dinge schärft, möglich? Schafft dies das Heimkino? Auf Madeleine Baumann wirkt die Frage wie ein kleiner Stromschlag, sie zuckt leicht zusammen, sagt: «Beim Streamen zu Hause kann man einen Film nicht richtig fühlen.»
Nicht zuletzt auch, weil wir im Kino all die Emotionen, die ein Film auslöst, im Kollektiv spüren. Mitgerissen werden. Doch dafür müssen die Bedingungen stimmen. In Lenzburg heisst das: Bei manchen Filmen gibt es keine Pause, weil es den Handlungsfluss stört. Und: keine Popcornmaschine, sondern fertig abgepacktes Popcorn. Der Geruch stört, findet Madeleine Baumann. Sie rümpft die Nase, als sie vom «Verdingbub»-Film erzählt, den sie auswärts sah. Und kurz vor Schluss eine Röstschwade in den Saal drang. «Das hat mir den Film versiechet.» Sie senkt das Kinn, blickt über ihren Brillenrand und schiebt nach: «Ein Kino sollte Klasse haben.»
Und dann springt die Saaltür auf. Die Kinder stürmen ins Foyer, die Eltern schlendern hinterher. Nicken den Baumanns zu, die schon auf sie gewartet haben. Man kennt sich. So gut, dass die Familie manchmal anhand der Todesanzeigen in der Zeitung sieht, mit wem sie nicht mehr rechnen muss.
Auf den Vater mit Kindern, die sich vor einem Plakat für ein Foto in Pose werfen, kann sie zählen, er sagt zu Madeleine Baumann: «Wir wissen schon, welchen Film wir als Nächstes bei euch sehen wollen.» Sie lächelt, verabschiedet ihn, setzt sich danach, ausruhen. Gegen Mitternacht erst ist Schluss, und am Sonntag geht es wieder los. Wie jeden Tag – ausser am Dienstag. Wie lange noch wird sie im Kassenhäuschen sitzen?
Baumann zuckt mit den Schultern. «Ich höre erst auf, wenn ich im hölzernen Pyjama liege.»