Am schlimmsten war es im März 2015. Drei Tage lang kam Claudia K.* mit einer Karotte und einer Kartoffel aus. Bei der Arbeit meldete sich die 35-Jährige krank – «um Energie zu sparen», sagt sie.
Damals ernährte sich die Ostschweizer Bankangestellte von Gemüse, Früchten und Säften aus einem Bioladen ihrer Heimatstadt. Doch der war wegen eines Todesfalls plötzlich zu: «Ich hatte Angst, zu verhungern.» Was als Entgiftungskur begonnen hatte, endete im Zwang, sich gesund zu ernähren. Claudia K. litt an Orthorexie.
Sie ist kein Einzelfall. «Zu uns kommen immer mehr Menschen, bei denen orthorektisches Essverhalten zu einer pathologischen Störung geführt hat», sagt Gabriella Milos, Leiterin des Zentrums für Essstörungen am Unispital Zürich.
Essverhalten mit pseudoreligiösen Zügen
Ähnlich klingt es von Spitälern und psychiatrischen Einrichtungen in den Kantonen Zürich, Aargau, Basel und Bern. «Bei vielen nimmt das Bedürfnis nach gesunder Ernährung pseudoreligiöse Züge an», sagt Bettina Isenschmid, Chefärztin des Kompetenzzentrums Adipositas, Essverhalten und Psyche beim Spital Zofingen. Orthorektiker sind nicht hauptsächlich aufs Abnehmen fixiert, sondern auf das richtige, reine und gesunde Essen.
Ein Blick in das Ernährungsbulletin, das der Bund diese Woche herausgegeben hat, zeigt: Superfood boomt. Allein von der Kultpflanze Quinoa importiert die Schweiz fünfmal mehr als 2012. Dafür ging der Verbrauch von Zucker im selben Zeitraum um ein Fünftel zurück – auf 30 Kilo pro Kopf und Jahr. Kuhmilch weicht immer mehr pflanzlichen Alternativen: Auch der Umsatz von Mandel-, Hafer-, Reis- und Sojamilch stieg in fünf Jahren um ein Fünftel.
Selbstverständlich haben nicht alle, die auf gesunde Ernährung achten, ein Problem. Orthorexie ist neu und gilt noch nicht als Krankheit. Fachleute streiten, ob es als Essstörung, als Zwangsstörung oder eine andere psychische Erkrankung zu werten ist. Eine Untersuchung der Universität in Düsseldorf (D) ergab, dass drei Prozent der deutschen Bevölkerung ein orthorektisches Essverhalten aufweisen. Auf die Schweiz umgerechnet wären das rund 250'000 Menschen.
Zwanghafte Ernährung wird oft verharmlost
Am Anfang der Erkrankung von Claudia K. stand der Herzinfarkt ihres Vaters. Er überlebte, doch: «Ich hatte Angst, dass auch ich krank werde.» Sie fastete eine Woche lang. Dann verzichtete sie auf tierische Fette. Später liess sie Alkohol, Zucker, Salz und Weissmehl weg. Am Ende ass sie nur noch, was der Bioladen hergab – «weil ich sicher war, dass die Lebensmittel dort schadstofffrei und gesund sind».
Einladungen zum Essen lehnte sie ab oder brachte Selbstgekochtes mit. «Mit Abscheu und Genugtuung» sah sie zu, wie die anderen Steak und Schokomousse in den Mund schoben. «Ich fühlte mich dann oft überlegen.»
Vielen ist laut Bettina Isenschmid vom Kompetenzzentrum Adipositas nicht bewusst, dass sie ein Problem haben. «Bei uns melden sich mehr Angehörige als Betroffene.» Orthorektisches Essverhalten werde oft verharmlost und «als vorübergehende Marotte abgetan».
Kein Wunder: Gesunde Ernährung, Fitness, Selbstoptimierung – das entspricht dem heutigen Ideal. Bücher, Kochsendungen und Blogger bombardieren ihr Publikum mit Ernährungsratschlägen. Auf Instagram finden sich 55 Millionen Posts unter dem Hashtag #eatclean (sauber essen). Dabei verbirgt sich hinter den gepimpten Food-Bildern viel Leid. Wie das Schicksal der US-Foodbloggerin Jordan Younger. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs gab sie plötzlich bekannt, dass sie kürzertreten müsse – wegen Orthorexie. Ihre Haut hatte sich durch die vielen Karotten orange gefärbt, die Haare fielen ihr büschelweise aus.
Das Geschäft mit der Angst
Viele Menschen glauben, unter einer Nahrungsmittelallergie zu leiden, und vermeiden bestimmte Lebensmittel. Obwohl gerade mal drei Prozent Allergiker sind, tut dies ein Viertel der Bevölkerung. Unispital-Chefärztin Milos: «Wir sehen häufiger als früher Menschen mit einer Essstörung und vermeintlichen Unverträglichkeiten.»
Die Angst ist ein gutes Geschäft. Studien zeigen, dass mit gluten- und laktosefreien Produkten bis zu drei Mal mehr verdient wird als mit konventionellen. Auch Allergietests sind lukrativ: Die Schweizerische Gesellschaft für Allergologie und Immunologie warnt vor «irreführenden» Blutanalysen. Solche wie die sogenannten Immunglobulin-G-Tests (IgG-Test) Cerascreen, Imuscan, Allergo-Screen, Food Detective oder Imupro. All diese Tests reagieren auf bestimmte Nahrungsmittel und empfehlen bei positivem Befund, darauf zu verzichten.
Das sieht Peter Schmid, Leiter der Allergiestation des Universitätsspital Zürich, kritisch: «Es ist fragwürdig, allein von erhöhten lgG-Werten eine Nahrungsmittelunverträglichkeit abzuleiten.» Dass solche Tests im Unispital nicht eingesetzt werden, hält alternativmedizinische Labors, Ernährungscoaches und Naturärzte nicht davon ab, sie anzubieten.
Fragwürdige Allergietests
SonntagsBlick macht einen Selbstversuch mit dem Test namens Imupro. Eine Angestellte des Labors Salamin in Sitten empfiehlt am Telefon das «Paket mit 90 Nahrungsmitteln» für 299 Franken – nicht gerechnet die Kosten für eine Blutentnahme; die muss man selbst organisieren.
Sieben Tage später kommt eine Aufzählung der unverträglichen Nahrungsmittel mit der Post: Glutenhaltige Getreide, Kuhmilch, Huhn, Ei, Apfel, Randen, Erdnuss, Sonnenblumenkerne und Rotbarsch seien zu meiden – die Liste ist lang. Seltsam nur: Bislang hatte die Blutspenderin aus der SonntagsBlick-Redaktion nie Beschwerden.
Wir machen einen anderen Bluttest, diesmal einen, den der Allergologe Schmid empfiehlt. Resultat: keine Allergien. Schmid ist nicht überrascht: «Jeder Mensch weist erhöhte IgG-Werte auf, wenn er häufig mit bestimmten Lebensmitteln in Kontakt kommt.» Eine solche Reaktion auf Milcheiweiss bedeute nur, dass man häufig Milch trinke.
Und was sagt das Labor Salamin? Erhöhte IgG-Werte, so die Sprecherin Marie José Wicki, seien «nicht zwingend gleichbedeutend mit einer Erkrankung». Sie empfiehlt, doch mal zu versuchen, die von ihnen angegebene Therapie durchzuführen, «um herauszufinden, ob es nicht doch Symptome gibt, an die Sie sich gewöhnt haben und die mit Nahrungsmitteln in Verbindung stehen».
Krank aus Sorge um die Gesundheit
Gabriella Milos hatte kürzlich eine Patientin, die wegen eines Imupro-Tests auf viele Lebensmittel verzichtete – und krank wurde. Sie warnt: «Solche Tests unterstützen Menschen in ihrer Essstörung.»
Claudia K. überwand die Orthorexie mithilfe ihres Freundes: «Er war der Erste, der mich darauf ansprach.» Sie machte eine Therapie. Doch auch heute, ein Jahr später, ist sie nicht völlig geheilt: «Süssigkeiten und Frittiertes bringe ich noch immer nur mit Mühe hinunter.»
*Name bekannt