Die zierliche junge Frau legt ihre Hände an die Ohren. Sie grinst und sagt: «Zuhalten! Es ist 13.30 Uhr. Die Jets starten.» Tatsächlich, Sekunden später donnern auf dem Militärflughafen Payerne fünf F/A-18 Hornet nacheinander in die Luft. Der Lärm geht durch Mark und Bein. Doch schon bald ist nur noch ein leises Rauschen zu hören. Und sehen kann man die Düsenflugzeuge dann längst nicht mehr.
Murielle von Büren ist Hauptmann und Berufsmilitärpilotin. Bis heute fliegen in der Schweizer Luftwaffe nur sechs Frauen. Die 32-Jährige mit den schulterlangen braunen Haaren ist die jüngste in dieser kleinen Gruppe, und mit der Brevetierung 2009 auch der «neuste» weibliche Flugzeugführer in der Armee.
Die in Lausanne geborene und zweisprachig aufgewachsene von Büren ist auf dem Militärflugplatz Payerne im Kanton Waadt stationiert – Heimbasis der Staffel 5, auch «Heuschrecke» genannt. Für sie fliegt Murielle die einmotorigen Flugzeuge Pilatus PC-6 und PC-7 sowie den Super Puma. Er ist der Helikopter der Superlative – mit fünf Tonnen Gewicht und rund 19 Meter Länge der grösste und stärkste der Schweizer Armee. Jeden Tag fasziniert der mächtige Vogel Murielle von neuem. «Mit dem PC-7 kann ich Akrobatik machen. Aber mit dem Helikopter kann ich überall landen. Auf einem Gletscher zum Beispiel. Mit dem Heli kann ich ein breites Spektrum abdecken», schwärmt die junge Pilotin.
«In der Luftwaffe gleicht kein Tag dem anderen»
Als Militärpilotin stehen Lastenflüge an, bei Waldbränden fliegt sie Löscheinsätze, und ist eine Person vermisst oder aus dem Gefängnis geflohen, sucht sie in Zusammenarbeit mit der Polizei aus der Luft – dank der topmodernen Navigationselektronik selbst bei Nacht. Aber auch Truppen, Bundesräte und andere VIPs werden von den Militärpiloten herumgeflogen. «In der Luftwaffe gleicht kein Tag dem anderen – genau diese Abwechslung gefällt mir», sagt von Büren.
Frauen sind selbst im Jahr 2013 noch Exoten in der Männerdomäne Militär. Gerade mal 1052 Frauen stehen ihren Mann – gegenüber 185 098 aktiven männlichen Soldaten. In der Luftwaffe arbeiten 136 Frauen und 24 242 Männer – bei den Piloten ist das Verhältnis 6 zu 176.«Ich arbeite in einer Männerwelt», sagt von Büren. Ihr Büro befindet sich in einer Militärbaracke, die Toilette muss sie sich mit ihren ausschliesslich männlichen Kollegen teilen.
Als die zweifache Mama in der Stillzeit während der Arbeit Muttermilch abpumpen musste, wollte sie keine Extrawurst, sondern hat sich selber organisiert: «Ich sage mir immer, ich bin in der Minderheit, also passe ich mich an.» «Mü» – in der Luftwaffe bekommt jeder einen Militär-Kurznamen – will keine Sonderbehandlung.
Ihr Onkel riet ihr zur Pilotenausbildung
Ihr Traum vom Fliegen begann schon früh. Mit zwölf Jahren schaute die kleine Murielle in den Nachthimmel und sagte: «Ich will zum Mond!» Sie fragte ihren Onkel, wie sie denn Astronautin werden könne. Dieser riet ihr, Astrophysik zu studieren und die Pilotenausbildung zu machen.
Gerade 16 Jahre jung, meldete sie sich zur Fliegerischen Vorschulung an. Die FVS (heute SPHAIR) ist eine Ausbildungsplattform der Schweizer Luftwaffe. Sie gilt als Einstieg in die Fliegerei – egal, ob später eine zivile oder militärische Laufbahn eingeschlagen wird. «Pilotin bei der Swissair» lautete das Ziel der ehrgeizigen Schweizerin. Sie wollte aber einen Plan B im Gepäck haben und besuchte das Lehrerseminar. Die Privatpilotenlizenz sowie zahlreiche Flugstunden absolvierte sie in ihrer Freizeit.
Swissair-Grounding beendete ihren Traum
Dann kam der 2. Oktober 2001. Das Swissair-Grounding beendete Murielles Traum von der Freiheit über den Wolken. Vorerst. «Ich dachte mir, ich habe ja einen schönen Beruf gelernt, dann gehe ich halt als Lehrerin arbeiten«, erklärt von Büren. Zwei Jahre unterrichtete sie an einer Primarschule in Köniz BE und flog in ihrer Freizeit.
Doch die Leidenschaft schlummerte weiter, denn als ihr ein Freund eines Tages vom Fliegen in der Luftwaffe vorschwärmte, war das Feuer wieder entfacht. «Mit 18 Jahren hatte ich mich noch nicht getraut, in diese Männerwelt einzudringen», sagt sie heute. Doch 2004, als 23-Jährige, fühlte sie sich bereit und entschied sich gegen die Schule und für das Militär. Sie wollte ihre Passion professionell, nicht nur hobbymässig betreiben.
Zuerst ging es 14 Monate ins Militär – von der Rekrutenschule bis zur Offiziersausbildung. Dabei unterschreiben Frauen für die Dienstpflicht; sie sind danach den Männern in der Armee gleichgestellt. Auf 300 männliche Dienstpflichtige kamen gerade einmal vier Frauen. Ganz hart: Meldet sich ein Rekrut für die Pilotenausbildung an und besteht die Ausbildung nicht, bleibt er trotzdem militärpflichtig. Murielle wäre also bei Nichtbestehen schlichte Soldatin statt Pilotin geworden.
Sie wollte im Militär das Gegenteil beweisen
«Die Anfänge im Militär waren nicht einfach», erinnert sich von Büren. «Der Rucksack, den wir tragen mussten – Mann, war der schwer.» Aber schnell merkte die Rekrutin, dass ihre männlichen Kollegen genauso litten. Bei einem Marsch bot sie einem erschöpften Kameraden sogar an, sein Gewehr zu tragen. Er nahm es dankbar an. Die junge Frau marschierte also 20 Kilometer mit ihrem eigenen Gepäck plus dem Gewehr ihres Kollegen.
Offensichtliche Ablehnung hat sie dennoch erfahren. Ein Schulkommandant sagte zu Beginn offen, dass er ein Problem mit Frauen im Militär habe; dazu stehe er. Was das Problem sei, wollte von Büren wissen. Frauen hätten stets eine Extrawurst, lautete die Antwort. Die Angegriffene nahm sich vor, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Auf die Offiziers-ausbildung folgten diverse Flugaus-bildungen. Für Murielle und ihre Kameraden standen fliegerische, medizinische sowie psychlogische Tests an. Bei Swiss Avation Training – das SAT ist ein Tochterunternehmen der Swiss – absolvierten sie die Linienpilotenausbildung. Jeder Militärpilot hat diese zivile Flugausbildung. Der Traum vom Fliegen rückte immer näher. Zumal die Klasse kleiner und kleiner wurde, längst war von Büren die einzige Frau.
Familie und Job können kombiniert werden
Die siebenköpfige Truppe teilte sich: vier Anwärter entschieden sich für das Jetcockpit, drei (inklusive von Büren) für die Helikopterausbildung. «Ich bin von Helis fasziniert und finde die Missionen spannender. Man kann schweben und überall landen», sagt von Büren. Mit ihren sechs Kameraden bekam die zähe Kämpferin im Juli 2009 nach fünf Jahren Ausbildung das Brevet «Berufsmilitärpilot».
Murielle von Büren ist Helipilotin, aber auch Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitet Teilzeit und ist dabei kein Einzelfall: Fünf der sechs Militärpilotinnen in der Schweiz haben je zwei Kinder. Die 32-Jährige arbeitet 70 Prozent. Dank der Hilfe der Grosseltern kann sie auch die Kinderbetreuung gut einteilen. Familie und Job können laut von Büren «super kombiniert» werden.
«Wenn ich mein Arbeitstenue ausziehe, bin ich wieder Mutter. Ich liebe es, mit meinen Freundinnen zu tratschen und High Heels zu tragen», sagt Murielle. «Es ist mein Job, ich liebe ihn über alles. Ich würde auch gratis arbeiten», sagt sie lachend. Ihr Mann, auch Berufsmilitärpilot, ist 100 Prozent bei der Luftwaffe angestellt und ebenfalls in Payerne stationiert. «Ich habe nicht weit gesucht», grinst sie. 2004 starteten beide ihre Militärkarriere; gefunkt hat es in einem Fliegertraining in Florida. 2010, ein Jahr nach ihrere Brevetierung, heirateten sie.
«Habe oft vergessen, dass ich schwanger bin»
Natürlich standesgemäss: Das Brautpaar wurde in einem Helikopter «chauffiert». Kurz darauf kam ihre Tochter zur Welt; vor acht Monaten ihr Sohn. In der zweiten Schwangerschaft ist Murielle bis zum siebten Monat noch geflogen: «Ich habe oft völlig vergessen, dass ich schwanger bin. Manchmal war das Ein- und Aussteigen mit dem Bauch mühsam, dann ist mir wieder in den Sinn gekommen: Du bist ja schwanger», erinnert sie sich.
Nach dem Mutterschaftsurlaub konnte es Murielle von Büren kaum erwarten, endlich wieder zu arbeiten. «Mein Mann und ich sind schon ein bisschen verbissen», gibt von Büren zu und lächelt. Mit den Kindern ging es auch schon mal mit einem ausgeliehenen Flugi für eine Pizza ins Tessin. Fliegen ist auch in der Freizeit Hobby Nummer eins.
Bei Madame und Monsieur von Büren treffen jedoch zwei Welten aufeinander: Frau fliegt Helikopter, Mann ist Jetpilot. «Heli und Jet sind zwei Philosophien, zwei Welten. Jeder hat das Gefühl, sein Bereich ist der bessere», sagt von Büren. «Ihr macht so viel Lärm«, sticheln Helipiloten. Die F/A-18-Hornet-Kapitäne kontern: «Ihr fliegt so tief. Wir sehen wenigstens die Sonne.» Spasseshalber wollte die 32-Jährige ihren Kindern beibringen, jedes Mal «Bähhh» zu rufen, wenn sie einen Jet sehen.
Bisher erst eine einzige Jetpilotin
Derzeit sitzt keine Frau in einem Jetcockpit der Armee. Bei einer der beiden Nachwuchspilotinnen, die gerade in Ausbildung sind, ist die Entscheidung noch offen.
Bisher gab es erst eine einzige Jetpilotin, sie wechselte aber in die Zivilfliegerei – weil sie damals nicht an Kampfeinsätzen teilnehmen durfte. Das ist Frauen erst seit 2004 erlaubt. «Jetfliegen ist eine Machowelt», sagt die Helipilotin. Doch es sei «nur eine Frage der Zeit, bis sich wieder Frauen für den Dienst als Jetpilotin bei der Armee begeistern werden.»
Von Büren geht in ein paar Tagen für dreieinhalb Wochen in den Kosovo. Zwei Super Pumas – stationiert für die internationale friedensunterstützende Mission Kosovo Force (KFOR) – warten darauf, von ihr in Einsätzen geflogen zu werden.