Kurvig und steil schlängelt sich die Landstrasse hoch zum Liechthof über Gansingen AG. Den Weg, den Fremde nur im Schneckentempo absolvieren, fährt Hausherrin Irene Hollinger (59) mit verbundenen Augen ab: «Pro Tag fuhr ich hier sicher zehnmal hoch und runter. Keine Ahnung, wie ich das auf die Reihe bekommen habe.»
Taxifahrerin war sie nicht, auch nicht Lastwagenchauffeuse. Sondern siebenfache Mutter: «Ich fuhr meine Kinder jeden Tag, vom Kindergarten über die Schule bis zur Lehre. Und das so lange, bis sie selber fahren konnten», erzählt die Bäuerin.
Keinen Rappen Unterstützung erhält die Bauernfamilie für den jahrelangen Fahrservice. Dabei liegt die Primarschule drei, die Bezirksschule gar neun Kilometer vom Hof entfernt. Hollinger: «Ich weiss gar nicht, wie viele Kilometer schon zusammengekommen sind. Aber das Familienauto muss bald weg, der Wagen hat schon über 200 000 Kilometer drauf.»
Bewundernswert ist die Ausdauer von Irene Hollinger: Ihr erstes Kind, Manuela, kam 1985 in den Chindsgi, ihr Jüngster, Luca (14), schliesst gerade die Sek ab – das sind fast drei Jahrzehnte Taxi! «Früher hatte ich jeden Morgen einen grossen Zettel gemacht: Wann ich welches Kind wo hinbringen muss. Denn ich musste ja auch noch auf dem Hof mithelfen, am Mittag kochen, das Haus putzen.»
Ehemann Peter (61) kümmert sich derweil um den Hof mit 53 Rindern, Kälbern und Muni. «Es gab Zeiten, da waren wir am Anschlag. Gerade im Winter, bei vereisten Strassen. Aber da hat keiner gefragt, ob wir weitermachen wollen. Wir mussten einfach.»
Eines ist ihm und seiner Frau wichtig: «Wir haben sieben Wunschkinder und wollen nicht jammern. Aber es macht mich traurig, dass Grossfamilien wie wir nicht mehr unterstützt werden. Es ginge doch nur um etwas Benzin oder einen Zustupf ans Auto.»
Prekär wird es 2009: «Ich bekam Rückenbeschwerden, hatte Entzündungen am Kreuz. Bis heute habe ich darum starke Schmerzen, wenn ich mich bücke, etwas anhebe oder auch im alten Auto sitze», so Irene Hollinger. Zu 30 Prozent ist sie arbeitsunfähig – 40 Prozent müssten es sein, um von der IV Geld zu erhalten. «Und auch die Versicherung zahlt nichts.
Ein halbes Leben hat das Ehepaar für seine beiden Buben und fünf Mädchen geopfert. «Weil es unser Wunsch war, wir sind stolz darauf. Dennoch hat die Erziehung viel Geld gekostet.» Geld, das nun fehlt. «Das Bad ist zum Beispiel völlig verbraucht von der ganzen Familie. Geld für die Renovation haben wir aber nicht.»
Nur knapp können sich die Hollingers über Wasser halten. Geld für ein neues WC oder Auto bleibt keines. Dazu kommt die ständige Angst, durch etwas Unerwartetes in finanzielle Not zu geraten. Sie raubt den Bauern den Schlaf: «Manchmal wünscht man sich, man wäre tot. Das habe ich meinem Mann auch schon gesagt. Dann müsste die Versicherung wenigstens 50 000 Franken zahlen», so Irene Hollinger.
Mittlerweile sind sechs der sieben Kinder flügge geworden. Die Älteste ist heute 32, hat eigene Kinder. Nur noch Sekschüler Luca sitzt zu Hause am Küchentisch. «Aus allen ist etwas geworden, das macht uns stolz», findet seine Mutter. «Wir wollen nicht betteln. Aber anstatt über die Bauern herzuziehen, könnte man grosse Familien auch belohnen.» Ihre Zukunftswünsche nach einem Leben voller Krampf und Stress? Bescheiden: «Dass es so ruhig bleibt wie jetzt. Und wir ohne Probleme durchkommen.»