Laut Bundesdaten weist die Schweiz seit drei Wochen eine hohe Übersterblichkeit auf, die jene während der ersten Welle im Frühjahr übertrifft. Seit Beginn der Pandemie hat die Schweiz knapp 350'000 Infektionsfälle verzeichnet. Mehr als 5000 Menschen sind seither an den Folgen des neuen Virus verstorben. Allein vom letzten Sonntag bis Freitag waren es 313 weitere Todesfälle. Täglich fast 80, so der Durchschnitt der letzten Wochen. Dies trotz einschneidender Massnahmen, die alle im Land betreffen.
Im Stillen findet in der Schweiz ein grosses Sterben statt, das in der aktuellen Debatte um politische Massnahmen und persönliche Einschränkungen vergessen geht. Das Land ist beschäftigt mit der Frage, ob man über die Feiertage Skifahren kann oder nicht. Was das Ausland über die Schweizer Skirebellen denkt und wann wir endlich wieder reisen dürfen. Die Schweiz diskutiert laut und heftig, doch die Toten sind kein Thema, wie «SonntagsBlick»-Chefredaktor Gieri Cavelty schon vorige Woche fragte: «Warum findet das grosse Sterben in der Öffentlichkeit so wenig Widerhall?»
Tausende von Angehörigen haben in den letzten Wochen und Monaten Schlimmes erlebt. Viele sind traumatisiert, andere verärgert. Für die Hinterbliebenen gibt es kaum Hilfe und keine Lobby in Bern. In vielen Fällen hat das Virus ihre Liebsten innert Tagen dahingerafft. Zurück bleiben Trauer, Ohnmacht, auch Ärger und Wut. Wegen der Corona-Massnahmen sind nicht einmal Gedenkgottesdienste erlaubt. «Es gibt keine Traueradresse des Bundesrates», so Cavelty. «Keine Fahnen auf halbmast, kein öffentliches Gedenken.»
Individualismus statt Gemeinschaft
Die vielerorts herrschende Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern erschüttert die Hinterbliebenen, wie jetzt auch eine Dokumentation der «SonntagsZeitung» aufzeigt, in der zahlreiche Hinterbliebene zu Wort kommen. Menschen, die mit dem jähen Tod von Nächsten leben müssen; dem Tod von Partnern, dem Vater, der Mutter, dem Kind, einem Geschwister oder Verwandten.
«Die Toten lassen die meisten kalt», sagt ein Hinterbliebener. Der Sohn eines verstorbenen 97-Jährigen erklärt: «Den Umgang mit den Corona-Toten empfinde ich als zynisch.» Trotz hoher Sterberaten würden viele in der Schweiz die persönliche Freiheit und den Individualismus weiter höher gewichten als die Gemeinschaft.
Andere kämpfen mit Wut. In einem Fall führte eine vorzeitige Entlassung aus dem Spital zu einer rapiden Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Auf die notfallmässige Einlieferung folgte drei Tage später der Tod. Ein anderer Corona-Patient war vom Spital angewiesen worden, er könne nur mit akuter Atemnot kommen. Als ihn die Ambulanz abholte, war er schon nicht mehr zu retten.
Corona-Mahnwachen
Es gibt auch andere Geschichten: Ein 58-Jähriger verlor im April seinen 80-jährigen Vater. Dieser habe ein Beatmungsgerät verweigert. Die Maschinen, so sagte er, müssten für die Jungen frei bleiben.
Und es gibt Menschen, die Mahnwachen für die Corona-Toten organisieren. In der Öffentlichkeit kein Mitgefühl, keine Worte des Bedauerns: «Das kann doch nicht sein – wo bleibt die Menschlichkeit?», fragten sich Roman Bolliger und Simon Gehren. Und organisierten Corona-Mahnwachen. «Damit wollen wir Raum für Trauer schaffen und unser Mitgefühl zeigen.» (kes)