Wer schon einmal auf Reisen war, kennt dieses ungewohnte Gefühl, das Erschrecken vor dem Vertrauten: Schweizerdeutsch in der Fremde! Automatisch spitzt man die Ohren und lauscht einem Gespräch, das eigentlich von niemandem verstanden werden soll.
Zum Mäuschenspielen muss man nicht zwingend ins Ausland reisen. Die gut besetzte Gondel aufs Schilthorn im Berner Oberland tuts auch. «Boah, hoffentlich hat der keine weissen Unterhosen an», sagt ein Mädchen im Teenageralter. Ihr Kumpel riecht es ebenfalls: «Aber echt, der sollte dringend seinen Schliessmuskel trainieren!»
Der vermeintliche Übeltäter ist ein älterer asiatischer Herr – und hat keine Ahnung, dass ihn die jungen Schweizer gerade der Umweltverschmutzung bezichtigen.
Ausserhalb der Gondel aber, rund um Lauterbrunnen, ist die Umwelt intakt: stolze Bauernhäuser, saftige Wiesen, senkrechte Felswände und stiebende Wasserfälle. Hier scheint die Schweiz noch in Ordnung – und zieht deshalb Gäste aus der ganzen Welt an.
Als Schweizer wird man auf dem Weg nach Lauterbrunnen an jeder Bahnstation etwas mehr zum Exoten. Im Zug von Winterthur ZH nach Bern sind die wanderfreudigen Meiers und Müllers noch in der Überzahl. Auf dem Weg nach Interlaken dominieren bereits die Asiaten.
Die Ausrüstung unterscheidet sich kaum. Mit Dächlikappe, Thermosflasche, Wanderstock und einer lässigen Allzweckjacke von Mammut macht man die Entschlossenheit deutlich, die Auffahrtswanderung auch bei plötzlichem Wetterumschwung durchzuziehen.
Nicht immer nur in Gruppen unterwegs
Was auffällt: Das Klischee des Gruppenreisenden aus China, der brav einer Fähnchen schwingenden Reiseleiterin hinterherläuft, scheint – zumindest teilweise – überholt. Die Asiaten, die hier im Zug sitzen, erkunden die Schweiz auf eigene Faust. Das schliesst jedoch nicht aus, dass alle an die gleichen Orte reisen.
Für sich ist auf dem Schilthorn nur, wer direkt am Geländer steht und in den Abgrund blickt. Selbst dann muss man damit rechnen, durch einen Rempler in die Realität zurückgeholt zu werden. «Nicht einmal Pardon sagen sie», beschwert sich eine Französin bei ihrem Mann.
Die junge Chinesin Iru Chang sagt dazu: «Es stört mich schon etwas, dass es hier so viele Leute hat.» Zwar verlangt sie keine totale Einsamkeit, aber dass man nicht einmal ungestört ein Foto machen könne, sei schon nicht so toll.
Die Amerikanerinnen Morgan und Amy scheinen sich daran nicht zu stören: «Es ist sehr friedlich hier, obwohl es so viele Leute hat.» Auch Julia und Rob aus Deutschland nehmen es gelassen, dass sie die Berge nicht für sich allein haben. Er: «Wenn immer mehr Menschen reisen, muss man sich die schönen Flecken halt teilen. Zudem ist man schnell allein, wenn man sich zu Fuss auf den Weg macht.» Seine Freundin ergänzt: «Und man spart sich so das teure Ticket für den Lift.»
Die Berge will sich niemand entgehen lassen
Die stolzen Schweizer Preise scheinen ein Dauerthema zu sein. Kein Wunder, wer weder GA noch Halbtax besitzt, zahlt für die Fahrt von der Talstation Stechelberg aufs Schilthorn und zurück 105Franken. Die Warteschlangen sind trotzdem lang. Insbesondere vor der Talfahrt müssen sich die Gäste eine halbe Stunde und länger in Geduld üben. Öffnen sich die Schleusen, gibts kein Halten mehr – bis der Gondelwart die Übung unterbricht: «Stop, stop», brüllt er mit tiefer Stimme. «Like civilized people!»
In der vollgestopften Gondel werden wieder die Smartphones gezückt, minutenlange Videos entstehen. Eine Schweizerin, die sich ungehört wähnt, meint leicht abschätzig zu ihrer Tochter: «Es nimmt mich ja wunder, ob sie diese Videos zu Hause dann auch wirklich anschauen.»
Unten angekommen entfährt es einem anderen Gondelfahrer: «Raus, Hauptsache, raus!» Eine nachvollziehbare Reaktion. Genauso nachvollziehbar ist es, dass sich di ese herrliche Bergwelt – in der Schweiz so leicht zugänglich wie kaum irgendwo sonst – niemand entgehen lassen will.