Es war sieben Uhr morgens, als die Erzieherin S. A.* ins Bett des kleinen Philipp schlüpfte. Die Angestellte des Waisenhauses Chur forderte ihn auf, «in ihrer Höhle zu krabbeln», wie sie es nannte. Sie blieb eine halbe Stunde. Damals war Philipp Gurt sechs Jahre, neun Monate und zwei Tage alt. Er fühlte sich, so sagt er heute, in der Hölle gefangen.
Seine Mutter hatte den Vater, einen Alkoholiker, und die acht Kinder verlassen. Eines Tages, nach dem Mittagessen, ging sie für immer. Das Einzige, was sie in Maladers GR hinterliess, war ein Fünfliber.
«Sie sagte, sie gehe nach Chur einkaufen – und kam nie mehr zurück», erzählt Gurt. Da war die Vormundschaftsbehörde längst auf die «Verwahrlosten auf dem Hügel» aufmerksam geworden. Man platzierte die Kinder in verschiedenen Heimen.
Philipp kam nach Chur ins Waisenhaus. Mit viereinhalb Jahren hatte er keine Familie mehr. «Es ging sehr schnell, da befriedigte sich die erste Erzieherin sexuell an mir.»
«Man dachte, ich sei Autist»
Er habe gewusst, dass das falsch war, sich aber weder wehren noch irgendjemandem mitteilen können. Mit der Zeit verstummte er ganz: «Man dachte, ich sei Autist. Schleppte mich zum Spezialisten, platzierte mich in diversen Heimen und Einrichtungen.»
Dort geschah immer wieder das Gleiche: Philipp wurde sexuell missbraucht und geschlagen. Insgesamt von drei Erzieherinnen und einem Mann. «Eine setzte sich nackt auf mein Gesicht. Wegen der Schamhaare konnte ich kaum atmen, bekam Erstickungsanfälle. Da hat sie sich rasiert und dachte wohl, sie tue mir damit einen Gefallen.»
Der Albtraum endete erst, als er zwölf war, seine Stimme wiederfand und zu widersprechen wagte: «Bis zu diesem Tag bestand eine der Erzieherinnen darauf, mich intim zu waschen.»
«Ich habe die Ereignisse sehr lange verdrängt»
Die sexuellen Übergriffe und die physische Gewalt in den Heimen wurden behördlich bestätigt, aber nie angezeigt. Auch von Gurt nicht: «Ich habe die Ereignisse sehr lange verdrängt, dann waren sie verjährt.» Ausser einer Erzieherin, die sich später bei ihm entschuldigte, habe ihm nie jemand geglaubt. «Dabei war ich nicht das einzige Opfer, und eine Erzieherin wurde vom Heimleiter bei einem Missbrauch erwischt.»
In seiner Biografie «Schattenkind» beschreibt Gurt die Zerstörung seiner Kindheit. Die Täterinnen und den Täter hat er damit konfrontiert.
«Ich wurde beschimpft und bedroht, falls ich das Buch herausbringe. Von den Betroffenen selbst, ihren Angehörigen und auch anonym.» Eine Unbekannte habe ihm am Telefon gesagt, man hätte ihn «als Kind zu Tode ficken sollen», erzählt Gurt. «Leider ist das die logische Konsequenz solcher Schandtaten. Und einer der Gründe, weshalb viele Missbrauchsopfer schweigen.» Er nicht. «Ich möchte ihre Stimme sein.»
«Wir spielten in der Höhle»
Nur eine der Erzieherinnen, die ihn missbraucht hatten, schrieb ihm einen Brief: «Ich bin eine Kinderschänderin, ein Monster und dennoch ein Mensch.» Sie war damals 26. Mit ihrem Brief schickte sie auch ein Tagebuch, in dem sie ihre Übergriffe beschönigend festgehalten hatte. Den eingangs beschriebenen Akt nannte sie darin: «Wir spielten in der Höhle.»
Gurt, heute Vater von fünf Kindern, hat den körperlichen und seelischen Horror verarbeitet. «Durch Glücksmomente, die ich als Kind erlebte, behielt ich Hoffnung und mein Lachen.» Dann fand er Zuflucht in der Schriftstellerei: «Ich habe geschrieben, um nicht zu fühlen. Heute sind Worte und Gefühle eins geworden.» Bis heute hat er zehn Bücher verfasst, darunter Romane und Biografien. Zwei seiner Werke wurden Bestseller.
Das Schweizer Fernsehen zeigt im Januar einen Dok-Film über sein Leben. Kameras werden Philipp Gurt auch an die Vernissage von «Schattenkind» am 8. Dezember in Chur begleiten. Er muss dafür Sicherheitsleute aufbieten, denn er wird nach wie vor bedroht: «Ich weiss nicht, was an dem Abend passiert. Es werden einige meiner Leidensgenossen aus dem Heim dabei sein.» Doch nicht alle sind noch am Leben: «Viele, die die gleichen sexuellen Übergriffe und körperliche Gewalt erlebt haben, nahmen sich das Leben oder sind im Drogensumpf verschwunden.»
Philipp Gurts Vater starb 1997. Mit der Mutter hat er keinen Kontakt mehr. «Was ich erlebt habe, wollte sie nie hören. Für sie, die Täterinnen und den Erzieher ist es einfacher zu denken, es sei alles nicht so schlimm gewesen.»
Philipp Gurt will nun einen Antrag auf Wiedergutmachung stellen. Das Geld will er spenden – für andere, die wie er durch die Hölle gehen mussten.
* Name der Redaktion bekannt