Bis 46 war Niklaus Flütsch eine lesbische Frau
Jetzt ist er ein schwuler Mann

Sie wusste fast alles über Frauenkörper. Doch ihr eigener blieb ihr fremd. So wurde Bettina Flütsch zu Niklaus Flütsch – als Mann hat er über seine ­Geschichte ein Buch* geschrieben.
Publiziert: 05.10.2014 um 00:00 Uhr
|
Aktualisiert: 05.10.2018 um 18:27 Uhr
1/6
2014: Der Gynäkologe Niklaus Flütsch (50) ist seit 2011 ein Mann. Er arbeitet am Kantonsspital Zug. In seiner Praxis berät er transsexuelle Menschen.
Foto: Nicolas Zonv
Interview: Philippe Pfister; Fotos: Nicolas Zonv

SonntagsBlick: Herr Flütsch, wenn man Ihre Geschichte zum ersten Mal hört, gibt es meist nur eine Reaktion: «Unglaublich!» Für Sie auch?
Niklaus Flütsch:
(Überlegt) Nein, unglaublich nicht, aber mein früheres Leben kommt mir heute vor wie ein Schwarz-Weiss-Film – jetzt bin ich wie in einem Farbfilm.

Lassen Sie uns der Reihe nach gehen. Wann fühlten Sie sich zum ersten Mal fremd in Ihrem Körper?
Im Alter von vier Jahren. Durch das Schneiden meiner Haare hoffte ich, dass mir ein Zipfelchen wachsen würde.

Klingt nicht gerade unbeschwert.
Doch, die Bilder aus meiner Kindheit sind glücklich. Ich wuchs in einem fortschrittlichen Elternhaus auf; ich hatte einen älteren Bruder und durfte seine Sachen austragen, Hosen und so. Ich fühlte mich unbeschwert – bis auf den kleinen Unterschied zwischen den Beinen. Das konnte ich mehrheitlich wegstecken.

Wie erlebte Bettina Flütsch die Pubertät?
Ich wurde mir selbst fremd. Es fühlte sich an, als ob sich ein Schleier über meinen Körper legte. Er entwickelte sich in eine Richtung, in der die Seele nicht hinpasste – und nicht hinwollte.

Sprachen Sie darüber?
Ich konnte das damals nicht formulieren, weil ich kein Wort dafür hatte. Ich wusste einfach, dass etwas nicht stimmt. Meine Eltern schickten mich zum Psy­chiater, weil ich an Depressionen litt. Man bekämpfte die Symptome. Die Ursache kam nicht zur Sprache.

Mit 16 wurden Sie magersüchtig.
Das war einer der Versuche, meine Fremdheit zum Körper zu kompensieren. Wenn ich nicht mehr ass, verschwanden die weiblichen Rundungen. So blieb ich androgyn. Ich ging in die Pfadi – da konnte ich Seilbrücken bauen, zelten, am Feuer sitzen. Ich trieb viel Sport, das lenkte mich vom Urgefühl der Fremdheit ab.

Wie waren Ihre ersten sexuellen Erfahrungen?
Das war im Internat. Sie waren zaghaft, und ich fand im Umgang mit männlichen Kollegen heraus, dass ich mich nicht als heterosexuelle Frau einordnen konnte. So fand ich mich in der «lesbischen Nische» wieder.

Wann wurde Ihnen zum ersten Mal klar, dass sie eigentlich keine Frau sind?
Mit 20, als ich in Zürich mit dem Medizinstudium begann. Dort wurde ich zum ersten Mal mit dem Thema Transidentität konfrontiert. Dies gab mir endlich eine Orientierung, erzählen konnte ich aber niemandem davon.

Sie wurden später Frauenärztin. Sicher kein Zufall, oder?
Im Rückblick ja, aber damals war mir das nicht so bewusst. Ich wollte mich mit dem weiblichen Körper auseinandersetzen, ich versuchte alles in der Welt, um mich mit ihm zu versöhnen.

Und Sie hatten Beziehungen zu Frauen.
Ja, ich suchte eine Partnerin. Und hatte das Gefühl, immer Pech zu haben. Es ging einfach nie auf. Wenigstens konnte ich in Beziehungen zu Frauen die männliche Rolle übernehmen. Das war einer der Kompromisse, die ich im Leben gemacht habe.

Fühlten Sie sich einsam?
Extrem! Ich fühlte mich total allein. Das Thema Trans-identität war ja damals nirgends präsent. Es gab kein Internet, Informationen fand man nur in Büchern, die man sich kaum getraute, zu bestellen ... 

Wann dachten Sie das erste Mal an eine Geschlechtsanpassung?
2007 war ich in Zug ge­landet, ich hatte eine Praxis, eine Freundin, war in meiner Karriere angekommen. Alles hätte gut sein können ...

Aber das war es nicht ...
Genau. In dem Moment, in dem man über das Leben zu reflektieren beginnt, kommen die Dinge hoch. Der Entschluss fiel 2009.

Da waren Sie im 46. Lebensjahr. Gab es einen Auslöser?
Als die Wechseljahre begannen, spürte ich erneut eine Veränderung meines Körpers in eine Richtung, die ich nicht wollte. Und es wurde auch klar, dass Trans­identität keine psy­chiat­rische Erkrankung, sondern angeboren ist. Da fasste ich den Mut, mein Leben grundlegend zu ändern.

Eine extreme Entscheidung.
Absolut. So, als spränge man aus dem Flugzeug ohne zu wissen, ob der Fallschirm aufgeht. Man steht vor dem Nichts. Werden die Leute das akzeptieren? Verliere ich meinen Job? Kann ich als Gynäkologe weiterarbeiten? Werde ich zu ­einem Freak?

Sie begannen mit der Hormontherapie,
Noch nicht. Der erste Schritt war damals der sogenannte Alltagstest, ich musste eine Weile lang in der männlichen Rolle leben, alles ohne medizinische Massnahme. Eine Art schwimmen lernen im leeren Pool ... Dieser Test wurde aber Gott sei Dank nun abgeschafft.

Wie fühlt sich das an, wenn man plötzlich Testosteron zu sich nimmt?
Es führt den Körper in eine zweite Pubertät. Der Bart wächst, man kommt in den Stimmbruch.

Ein gutes Gefühl?
Ich kam mir vor wie eine ausgetrocknete Pflanze, die endlich, endlich Wasser bekommt. Mein Körper sog das Testosteron auf wie ein Schwamm. Es war wie ein Lebenselixier. Jetzt hatte ich das in den Adern, was ich schon immer wollte. Das ganze Leben.

Sie nannten sich Niklaus, unterzogen sich einer Unterleibs-OP und liessen sich die Brüste entfernen. Wie reagierte das Umfeld?
Überrascht und verwirrt, aber es stand zu mir – auch meine damaligen Chefs im Zuger Kantonsspital und meine Eltern. Die Unterstützung im persönlichen Umfeld ist extrem wichtig, damit eine Transition gelingen kann – das ist übrigens einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich möchte Menschen Mut machen, zu sich selber zu finden, und ihre Träume zu leben.

So wie Sie nun fühlen: Ist es so, wie Sie es sich erträumt haben?
Ich liess viele von den stereotypen Vorstellungen, die ich von Männern hatte, los. Am Anfang hatte ich die Tendenz, mich sehr männlich zu geben. Je männlicher ich äusserlich wurde, desto mehr konnte ich meine weiblichen Seiten zulassen.

Eine Art Versöhnung?
Ja. Meine weibliche Vergangenheit bleibt ein Teil von mir, den ich nicht verleugnen will.

Während der Übergangsphase waren Sie noch mit einer Frau zusammen.
Wir hatten die Idee, dass wir das zusammen durchstehen. Das wurde für beide immer schwieriger. Meine Partnerin sah mich als Frau, die Veränderungen bei mir wurden für sie zur Zerreissprobe. Schliesslich trennten wir uns.

Dann verliebten Sie sich in einen Mann.
Ich war eine Weile solo. Und fühlte mich sehr wohl dabei. Ich hatte in dieser turbulenten Zeit so viel ins Reine gebracht, dass es auch keine Rolle mehr spielte, welchem Geschlecht mein Partner angehören soll – es musste einfach der Mensch sein, der zu mir passt. So verliebte ich mich in meinen heutigen Mann.

Den Sie heirateten.
Juristisch kann in der Schweiz ein Mann nur eine Frau heiraten. Bei Männerpaaren sind nur eingetragene Partnerschaften möglich. Aber wir haben dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen: Da ich vorläufig auf die Personenstandsänderung verzichtet habe, werde ich im Zivilstandsregister weiter als weibliche Person geführt. So konnten mein Mann und ich offiziell heiraten.

Fühlen Sie sich befreit?
Ja. Es ist ein Gefühl von Nachhausekommen. Ich bin dort angelangt, wo ich schon immer sein wollte.

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.
Jetzt im Blick Live Quiz abräumen

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?