Es ist ein einzigartiger Prozess, der gestern am Regionalgericht Bern-Mittelland begann. Die Vorwürfe gegen einen Musiklehrer aus dem Kanton Bern sind ungeheuerlich und wiegen schwer.
Der selbsternannte Heiler X.* (53) steht wegen schwerer Körperverletzung, Verbreitung menschlicher Krankheiten, Drohung, versuchter Nötigung und Tätlichkeiten vor Gericht.
X. soll zwischen 2001 und 2005 seinen Patienten und Musikschülern absichtlich das Aids-Virus HIV gespritzt haben. 16 von ihnen sind infiziert. 13 von ihnen hat er gleichzeitig mit dem Hepatitis-C-Virus angesteckt. Das Blut zapfte er einem infizierten Musikschüler ab (BLICK berichtete).
Prozess beginnt acht Jahre nach Anzeige
Jetzt endlich, acht Jahre nach der ersten Anzeige, muss sich X. den Vorwürfen stellen. Der Heiler fährt im Taxi vor. Beim Aussteigen zieht er die Jacke übers Gesicht. X. ist ganz in Schwarz gekleidet, so fällt sein Schmuck noch mehr auf (siehe unten).
Am ersten Prozesstag sagen fünf seiner Opfer aus. Weil sie die Anwesenheit ihres Peinigers nicht ertragen, muss X. im Nebenraum der Befragung folgen.
Bei Opfer A.* ist die Krankheit Aids bereits ausgebrochen. «Für mich war sofort nach der Diagnose klar, dass ich den Virus bei der Akupunkturbehandlung bei X. eingefangen haben muss», sagt A. dem Richter. «Und ich war sicher: Ich bin nicht das einzige Opfer.» Die Schwägerin von A. empfahl Heiler X. Sie war bereits bei ihm in Behandlung. «Er kannte mich nicht persönlich», sagt A. «Deswegen glaube ich, dass es ihm um die Tat an sich ging.»
Auf Drängen der Schwägerin geht A. 2004 wegen seiner Migräne zum Wunderheiler. «Ich wollte eigentlich nicht. Aber meine Schwägerin war X. hörig. Sie hat mich und meine Frau so lange bearbeitet, bis ich zu ihm ging. Ich wusste damals nicht, dass meine Schwägerin bereits infiziert war.»
In der Dachgeschosswohnung des Heilers soll A. das Hemd ausziehen und sich auf den Boden legen. «Er hat mir dann mit etwas, das ich nicht gesehen habe, in die Schulter gestochen. Dann wischte er die Stelle ab, sagte: ‹Das ist erledigt. Schauen Sie, dass Sie in den nächsten Wochen nicht krank werden.›»
Die Akapunktur-Falle
Doch genau das passiert. Eineinhalb Wochen nach der Behandlung wird A. krank, HIV wird bei ihm diagnostiziert.
Mit dem Vorwand der Akupunktur soll X. zehn Menschen in die Falle gelockt haben. Auch die Schwägerin von A.: «Ich war jahrelang bei ihm in Behandlung. Er wollte mir durch Akupunktur das dritte Auge öffnen», sagt Opfer B.*
Als B. erfährt, dass sie HIV positiv ist, hat X. schon eine Lüge parat. «Er hat mir eingeredet, mein Schwager hätte mich mit K.o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt. Deshalb seien wir beide HIV-positiv. Ich habe ihm geglaubt und Anzeige gegen meinen Schwager eingereicht», sagt B. «Ich war abhängig von ihm. Er hat mir gedroht: Wenn ich nicht mache, was er sagt, würde er den Kontakt abbrechen. Das war damals eine ganz schlimme Vorstellung für mich.»
Dabei war es X., der einige seiner Opfer mit K.o.-Tropfen betäubt haben soll. Um ihnen dann das HIV-Blut zu spritzen. So auch Opfer C.*: «Wir waren mal ein Paar. Er hat mich nach Jahren zu sich eingeladen. Dort hat er mir einen grünen Cocktail gegeben, ich bin eingeschlafen. Als ich aufwachte, waren bereits Stunden vergangen.»
Opfer C. erkrankt nach dem Besuch bei X. Ein Arzt empfiehlt einen HIV-Test. «Ich war geschockt, als ich das Ergebnis hörte», sagt C. «Ich konnte mir nicht vorstellen, wo ich mich angesteckt haben könnte.»
Erst der Arzt in der Sprechstunde des Inselspitals stellt den Bezug zu Heiler X. her. «Damals waren den Ärzten schon mehrere Fälle bekannt, und sie fragten Infizierte ganz gezielt nach X.»
Der Angeklagte X. bestreitet die Vorwürfe. Sein Anwalt erklärt, die Infizierten seien lediglich auf der Suche nach einem Sündenbock. Der Prozess gegen den Aids-Spritzer zieht sich über zwei Wochen hin. Heute sagen die Gutachter aus.