Sie schickte es ihrem Vater – dann stürzte sie in den Tod
Jessicas letztes MMS

Kletterausflug bei Adelboden, ein wunderschöner Tag. Der Bergführer hat Jessica noch nicht angeseilt, da stürzt die 13-Jährige – 50 Meter tief.
Publiziert: 22.10.2011 um 23:56 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 12:40 Uhr
Von Sandro Inguscio

Strahlend baumelt Jessica M.* (†13) aus Wuppenau TG in der Wand. Sie hält sich mit beiden Händen am Seil fest. Es sind die letzten Kletterübungen der Sek-Schülerin, bevor sie sich am Donnerstagnachmittag vor einer Woche in die beliebte Cholerenschlucht vor Adelboden BE wagt – zusammen mit ihrer Freundin Alessia und dem Bergführer Martin M.*

Alessias Grossmutter hatte den Mädchen diesen Ausflug geschenkt. «Hi Paps, ich bin gerade am Film schauen. Morgen fahren wir nach Adelboden klettern. Ich han dich mega fest lieb», tippt Jessica ihrem Vater, dem Lehrer Gian-Andrea M.* (44) noch am Mittwochabend ins Handy. Kurz nach 10 Uhr schickt sie ihm dann noch das Foto aus der Kletterwand.

Es ist die letzte Aufnahme, die es von ihr gibt. Viereinhalb Stunden nach dem Schnappschuss stürzt Jessica in den Tod. «Es zerreisst mir das Herz, wenn ich das Bild betrachte oder ihre letzten SMS lese», sagt der Vater traurig.

Jessica ertrank im Bach

Das Drama geschieht auf einem Zustiegsweg zur Abseilstelle: Bergführer Martin M. geht voran, befestigt sein Seil, dann das von Alessia. Jessica wartet, bis auch sie an der Reihe ist. Plötzlich rutscht sie aus, stürzt 50 Meter in die Tiefe. Sie landet im reissenden Tschentbach. Fünf bis sechs Minuten liegt sie da, das Gesicht im Wasser. «Sie hatte fast keine Frakturen vom Sturz – und trotzdem ist sie tot. Sie ist ertrunken!», so ihr Vater.

Der Bergführer bringt zunächst Alessia in Sicherheit, dann macht er sich auf den Weg zu Jessica. Doch als er und die Rettungskräfte eintreffen, ist es zu spät. Die 13-Jährige stirbt auf dem Weg ins Spital.

Ihr Vater ist traurig. Aber seine Wut ist fast noch grösser: «Das ist doch fahrlässig! Warum waren die Mädchen nicht angeseilt? Warum ging der Bergführer voraus, anstatt sie abzusichern? Warum ging er nicht sofort zu meiner Tochter, um ihr zu helfen? Ich verstehe das alles nicht!», sagt Gian-Andrea M.

Bergführer verneint Fehler

SonntagsBlick hat Martin M., den Bergführer, mit den Vorwürfen konfrontiert. Per Mail antwortet er: «Die Mädchen waren nicht angeseilt, weil ich es als erfahrener Bergführer nicht für nötig erachtete. Es war meine Pflicht, die Kollegin zuerst in Obhut anderer Leute zu bringen. Und der schnellste Weg zur Verunfallten führte über den Weg, den ich gewählt habe. Der Unfall macht mich tief betroffen, aber ich habe keinen Fehler gemacht.»

Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung eröffnet. Für Gian-Andrea M. aber ist schon jetzt klar: «So eine Schule muss geschlossen werden, damit so etwas nicht mehr passiert!»

Er weint, dann fährt er fort: «Ich hatte lange Zeit keinen guten Kontakt zu Jessica. Sie lebte bei einer Pflegefamilie, aber vor fünf Jahren wollte sie mich unbedingt kennenlernen. Seither», so der Vater, hörten wir uns täglich, schrieben uns SMS. Im August verbrachten wir sogar vier Tage zusammen in Mailand. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.»

Gian-Andrea M. hadert mit dem Schicksal. Sucht nach Antworten. «Jessica wollte weg aus der Pflegefamilie. Hätte die Vormundschaftsbehörde ihr an diesem Tag erlaubt zu mir zu kommen, könnte sie jetzt noch leben.»

*Namen der Redaktion bekannt

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