Nadja S.* erhebt sich wie in Trance. Sie geht mit kleinen Schritten zur Kommode. Dann, als wolle sie sich festhalten, umfasst sie mit beiden Händen einen goldenen Bilderrahmen. Als sie sich umdreht, zittert die 62-Jährige am ganzen Körper, Tränen schiessen ihr in die Augen. Immer wieder streicht sie mit dem Zeigefinger über das Bild.
Es ist ein Foto ihrer jüngsten Tochter Larisa (30), aufgenommen in Dubai. Vor einem Monat war sie mit ihr dort: «Larisa wollte mich unbedingt einladen. Heute bin ich so dankbar, dass ich noch einmal Ferien mit ihr verbringen durfte.»
Es ist das letzte Bild, das die Mutter von der geliebten Tochter aufnehmen konnte. Larisa, Juristin und Kader beim Nachrichtendienst des Bundes, kam vom Shoppen in der Stadt Bern, als sie am Freitag – 100 Meter von ihrer Wohnung entfernt – vom Tram erfasst und zu Boden geschleudert wurde.
Fragen über Fragen
«Wie konnte das passieren? Warum musste Larisa sterben? Sie stand doch auf dem Fussgängerstreifen!», fragt die Mutter immer und immer wieder. Larisa kannte doch die Situation an der Haltestelle Kocherpark genau. Wieso hat das Tram sie trotzdem erfasst?
Fragen über Fragen, auf die Nadja S. keine Antworten findet. Solange die Untersuchungen der Polizei andauern, gibt es keine Auskünfte. Nicht für die Mutter, nicht für die Presse. Bekannt ist nur, dass Larisa S. schwere Kopfverletzungen erlitten hat, ein Beckenbruch kam hinzu.
Erst vor zwei Jahren hatte Larisa S. ihr Studium in Bern mit Bestnoten abgeschlossen. Sie findet Arbeit beim Bundesamt für Polizei. Nadja S.: «Ich war so stolz auf sie. Sie war extrem diszipliniert, stellte höchste Anforderungen an sich.»
Im Oktober holt man Larisa als Abteilungsleiterin zum Nachrichtendienst. «Die Abteilung war geheim. Sie durfte nicht einmal mir erzählen, was sie arbeitet. Aber sie war glücklich mit ihrem neuen Job», sagt die Mutter und hält das Bild noch fester: «Sie hätte endlich beginnen können, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten.» Doch dazu kam es nicht mehr.
«Als ich in ihre Gesichter sah, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert ist.»
Im Gespräch mit BLICK findet Nadja S. zum ersten Mal die Kraft, über den unfassbaren Verlust zu sprechen. In ihrer Stube in Nidau BE erzählt sie, wie sie den Tag erlebte, an dem sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verlor.
Larisa hatte sich den Freitag frei genommen, um in der Stadt einkaufen zu gehen. Die Mutter: «Wir haben am Mittag noch telefoniert. Sie wollte mit mir am Samstag ihr Gottenkind besuchen.» Danach hört sie nichts mehr von Larisa. Als S. am späten Nachmittag nach Hause kommt, sieht sie auf dem Handy eine Nachricht der Polizei.
«Ich dachte, ich hätte falsch parkiert. Ich wollte sofort Larisa anrufen, rechtlichen Beistand von ihr erhalten. Doch sie ging nicht ran. Da rief ich die Polizei an, um nachzufragen.» Die Beamten geben keine Antwort, kommen stattdessen zu ihr nach Hause: «Als ich in ihre Gesichter sah, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert ist.»
«Ihre Hände waren warm, ihr Herz schlug, es war, als würde sie leben.»
Die Mutter eilt so schnell wie möglich ins Inselspital nach Bern: «Ich sah Larisa auf der Intensivstation liegen. Ihre Hände waren warm, ihr Herz schlug, es war, als würde sie leben. Ich hoffte es so sehr. Ich flehte den Arzt an, er solle meiner Tochter helfen, sie retten. Doch sie konnten nichts tun. Ihr Hirn war tot.»
Stundenlang hofft die Mutter. Auf ein Wunder. Dass Larisa die Augen öffnet. «Um 1 Uhr nachts teilten mir die Ärzte mit, dass man die Maschinen abstellen müsse. Ich umarmte Larisa ein letztes Mal. Streichelte mit ihrer Hand über mein Gesicht, hob ihren Kopf, um sie zu küssen. Erst da sah ich das viele Blut auf dem Kissen. Ich musste meine Tochter, meine beste Freundin, gehen lassen.»
Nadja S. bricht wieder in Tränen aus. «Jeden Abend hat sie mir ein Gute-Nacht-SMS geschrieben. Jeden Sonntag kam sie bei mir essen. All diese kleinen Dinge erscheinen jetzt so gross. Diese Lücke in meinem Herzen wird nie mehr jemand ausfüllen können. Ich vermisse sie so sehr ...»
* Name der Redaktion bekannt