Weinend sitzt Marion W.* (44) am Dienstag vor der Richterin. «Hätte ich mir damals Gedanken gemacht, würde ich nun nicht hier sitzen, und die Kleine wäre nicht unterkühlt gewesen», sagt sie schluchzend. «Ich wollte nie, dass sie stirbt oder so.» Die Gerichtspräsidentin bringt der Beschuldigten, die trotz der grossen Hitze eine Jeans und ein langärmliges Sweatshirt trägt, Taschentücher.
Der Arbeitslosen wird in der Anklageschrift vorgeworfen, am 3. Januar 2020 klammheimlich zwischen 18 und 19 Uhr ein Mädchen geboren und es danach auf dem abgelegenen Werkhof in Därstetten BE ausgesetzt zu haben. Der etwas zu früh geborene Säugling sei erst am nächsten Morgen von Bauer Paul Tschabold (58) gefunden worden und dem Erfrierungstod nur knapp entronnen. Marion W. habe dank Hinweisen am nächsten Tag bereits ermittelt werden können – sie muss sich nun wegen versuchter Kindstötung und diverser Drogendelikte vor dem Regionalgericht Oberland in Thun BE verantworten.
Widersprüchliche Aussagen
Der Prozess beginnt mit der Einvernahme der Kindsmutter. Diese sitzt wie ein Häufchen Elend auf der Anklagebank und verstrickt sich direkt in Widersprüche. «Ich hab nicht wirklich gewusst, dass ich schwanger bin. Vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben», erklärt sie dem Gericht unter Tränen. In früheren Einvernahmen soll sie jedoch sogar von einem positiven Schwangerschaftstest gesprochen haben.
Schon bei früheren Befragungen soll W. es mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen haben. Zu Beginn habe sie verschwiegen, dass das Kind durch eine heimliche Affäre entstanden war, während ihr Lebenspartner Klaus K. in Deutschland im Knast sass. Sie habe sogar angegeben, nach einem feuchtfröhlichen Ausgang in Thun vergewaltigt und so schwanger geworden zu sein. Die Staatsanwältin führt aus: «Es wurde ein Verfahren gegen eine unbekannte Täterschaft eröffnet, dieses wurde aber mangels genügender Hinweise auf eine Vergewaltigung eingestellt.»
«Sie war zu feige»
Das Kartenhaus aus Lügen dürfte Marion W. laut der Anklägerin aus rein egoistischen Gründen gebaut haben: «Sie war zu feige, das ist der einzige Grund, weswegen sie ihr Kind zurückgelassen hat. Sie wollte, dass ihre Affäre nicht aufgedeckt wird.» Die Kindsmutter habe den Tod des Babys zumindest in Kauf genommen, echte Reue sei nicht spürbar. Die Staatsanwältin fordert eine Freiheitsstrafe von 32 Monaten, die Hälfte davon soll sie absitzen. Ausserdem soll der vierfachen Mutter eine Probezeit von vier Jahren auferlegt und sie soll für fünf Jahre des Landes verwiesen werden.
Der Verteidiger von Marion W. hat eine andere Sicht auf die Dinge. «Sie wollte, dass das Kind so rasch wie möglich entdeckt wird», sagt er in seinem Plädoyer. «Sie wollte nie den Tod des Babys, ging aber selbstverständlich ein grosses Risiko ein.» Er spricht daher nicht von versuchter Kindstötung, sondern von einer Aussetzung: «Ohne die Erstversorgung durch Marion W. wäre das Kind mit Sicherheit gestorben.» Sie habe zuerst geschaut, dass das Kind überlebe, und es erst dann in Gefahr gebracht.
Aussetzung oder versuchte Kindstötung?
Der Anwalt stört sich daran, dass der leibliche Kindsvater nicht anwesend ist – obwohl er «an der Zeugung genauso beteiligt war wie meine Mandantin». Bis heute wisse nicht einmal die eigentliche Gefährtin des Erzeugers, dass der sie betrogen und ein Kind mit einer anderen Frau habe. Zum Mädchen, das in einer Pflegefamilie wohnt, wolle er im Gegensatz zur Kindsmutter keinen Kontakt. Marion W. bemühe sich zumindest, eine Beziehung aufzubauen.
Eine bedingte Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Gewährung einer zweijährigen Probezeit seien genug, findet der Verteidiger. Eine Landesverweisung sei nicht auszusprechen, die Genugtuungssumme für das Kind sei auf maximal 5000 Franken festzulegen.
Das letzte Wort
Beim letzten Wort vor Gericht sagte die Beschuldigte mit brüchiger Stimme: «Ich bin dankbar, dass sie rechtzeitig gefunden wurde und dass es ihr heute gut geht. Ich weiss, dass ich nun dafür die Verantwortung tragen muss.»
Das Urteil fällt voraussichtlich am Donnerstag. Für die Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung.
* Name geändert