Darum gehts
Die Temperatur lag an jenem Dienstag im Februar nahe am Gefrierpunkt. Es nieselte. Missmutig ging Jonas* (12) mit Malou aus dem Haus. Normalerweise führt seine Mutter die Hündin Gassi. Doch an diesem Tag nicht. Denn Jonas’ kleine Schwester war krank.
«Mindestens eine Viertelstunde soll er draussen bleiben, habe ich ihm gesagt», erinnert sich seine Mutter. Das war um 16.40 Uhr. Die Polizei konnte den Zeitpunkt später anhand der Handy- und Standortdaten rekonstruieren.
Gut drei Jahre ist das her. Die Mutter steht beim Garten und zieht an Malous Halsband. Die Hündin schnuppert an einem Gebüsch. Dort, wo Jonas damals das Grundstück durch den Hinterausgang verliess. Wäre er nur etwas früher oder später rausgegangen. Sekunden, die alles verändert hätten.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Die verhängnisvolle Begegnung
Jedenfalls traf Jonas, der eigentlich anders heisst, kurz darauf Erika M.*, die in einem unscheinbaren Wohnblock auf der anderen Strassenseite lebte. Sie streichelte Malou. Neben ihr stand Lisa* (†8), ihre achtjährige Tochter. Sie schien Angst vor der Hündin zu haben. So erzählte es Jonas später der Polizei.
Jonas zog Malou weiter. Einmal um die Siedlung – um die kleinen, dunklen Reihenhäuser mit grossen Gärten, die der Stadt Bern gehören und günstigen Wohnraum für Familien bieten. Nur noch diese letzte Strasse hoch, dann wäre die Runde geschafft gewesen. Da sah Jonas sie wieder: Erika M. und ihre Tochter. Auf dem schmalen Pfad, der steil links abbiegt in den Könizbergwald, der zu jener Jahreszeit kahl und ungemütlich wirkte.
Wenig später war Lisa M. tot. Erschlagen von einem acht Kilo schweren Stein. Als die Polizei eintraf, lag das Mädchen bäuchlings und blutüberströmt in ihrem «Versteckli»; einer kleinen Baumhütte, die sie eine Woche zuvor mit ihrer Mutter gebaut hatte.
Das sagte Jonas zur Polizei
Jonas erfuhr erst von ihrem schrecklichen Tod, als er am nächsten Tag mittags von der Schule heimkam und eine Nachbarin fragte, was hier los sei. Überall waren Polizisten, die nach Spuren suchten. Er habe das Mädchen erst gestern noch mit ihrer Mutter gesehen, sagte er zuerst zu ihr – dann zur Polizei, die ihn gleich auf den Posten mitnahm.
Schnell fiel der Verdacht auf Erika M. Das Entsetzen darüber füllte die Schlagzeilen über die Landesgrenzen hinaus. Es war die eine Frage, die alle quälte: Kann es sein, dass eine Mutter ihr achtjähriges Kind getötet hat? Ja, meinte später die Staatsanwaltschaft, ja, urteilte das Regionalgericht Bern-Mittelland, und ja, bestätigte diesen März auch das Obergericht des Kantons Bern. Es sprach die 33-Jährige des Mordes an ihrer Tochter schuldig und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren.
Erika M. bestreitet die Tat. Ihr Anwalt wird den Fall wohl ans Bundesgericht weiterziehen. Noch warten sie aber auf die schriftliche Urteilsbegründung des Obergerichts. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Tatsächlich fehlt für ihre Schuld bis heute ein eindeutiger Beweis. Die Urteile basieren auf reinen Indizien. Insgesamt 16 hat die Staatsanwältin zusammengetragen. Und einen einzigen Augenzeugen präsentiert: Jonas.
Die ganze Anklage stützt sich auf Jonas
Auf ihm lastet seither ein tonnenschweres Gewicht – das ging im medialen Getöse völlig unter, das diesen «Kindsmord im Könizbergwald» seit nunmehr zweieinhalb Jahren begleitet. Die gesamte Anklage stützt sich auf ihn. Er war der Einzige, der Mutter und Kind zusammen in den Wald gehen sah.
Er ist es, der Erika M. widerspricht, die zu Hause «gechillt» und Musik gehört haben will. Und er ist es, der eine mögliche Erklärung dafür liefert, warum ihr Handy zur mutmasslichen Tatzeit zwar tatsächlich in der Wohnung lag und Spotify lief, aber merkwürdigerweise dennoch unberührt blieb. Die Mutter, so glauben die Ermittler, hat es absichtlich zu Hause gelassen, um sich ein elektronisches Alibi zu verschaffen.
Damals nach der Schule, als Jonas völlig unbedarft der Polizei erzählte, was er gesehen hatte, war all das noch weit weg. Und wie hätte er erahnen sollen, welche Tragweite diese Aussage noch haben sollte? Welche Rolle ihm damit zukam? In einem Mordprozess!
Jonas’ Mutter bleibt vor Lisas kleiner Gedenkstätte stehen, einem Engel aus Marmor neben einer leicht vergilbten Grabkerze. Und sagt dann diesen Satz, der jeden Rechtsstaat im Kern erschüttern muss: «Jonas wünschte sich, er hätte nie gesagt, was er gesehen hat.»
Er hat das Erlebte tief in sich vergraben
Jonas’ Eltern möchten deshalb erstmals – rund drei Jahre nach der Tat – die Geschichte ihres Sohnes erzählen. Seiner Perspektive Gehör verschaffen. Jonas, heute 15, gab sein Einverständnis zu diesem Text, wollte selbst aber nicht mehr darüber sprechen.
Er habe das Erlebte tief in sich eingegraben, sagt die Mutter. An einem Ort, zu dem niemand Zugang hat. Als ihm bewusst wurde, dass Erika M. wegen ihm ins Gefängnis kam, habe er nur noch geweint. «Ich konnte ihn nicht mehr trösten», sagt sie. Es habe wehgetan, ihm die Last nicht abnehmen zu können, erzählt später auch sein Vater am Telefon. «Er tut zwar immer cool, ist aber ein sensibler Junge.»
Jonas erlitt kurz nach seiner Aussage bei der Polizei einen Zusammenbruch und musste in Therapie. In der Schule schrieb er damals einen Aufsatz, den er Wald-Krimi nannte. «Ihn beschäftigte das alles sehr. Dann waren Sportferien, und er konnte ein bisschen den Kopf lüften und Spass haben. Aber er musste noch einmal eine Aussage machen, wo er gefilmt wurde. Und noch einmal sein Handy abgeben. Es fing wieder an, ihn zu beschäftigen. Er ging zum Therapeuten zum Reden. Und dann ging es eine Zeit gut – und dann nicht mehr.»
Schuldgefühle – und Angst vor Erika M.
Es sei schwierig, mit Jonas über seine Gefühle zu reden, sagt die Mutter. Er fresse solche Dinge lieber in sich hinein, seit der Pubertät erst recht. Doch sie weiss, dass ihn zuerst das Gewissen plagte. Er hätte den beiden in den Wald folgen, die Tat verhindern sollen. Und dann die Angst: «Dass Erika M. sich irgendwann an ihm rächen könnte.»
Und als hätte Jonas nicht schon genug zu leiden unter seiner Zeugenrolle, erhielt Erika M. auch noch einen Verteidiger zur Seite gestellt, der sich als wenig zimperlich herausstellte. Moritz Müller, ein schmaler Mann mit Schnauzbart. Genauso zufällig wie Jonas zu seiner Rolle als wichtigster Zeuge kam Müller an jenem Februartag zu seinem Mandat. Er hatte Pikettdienst.
Das schwächste Glied in der Beweiskette
Anders als für Jonas war es für den damals 37-Jährigen aber ein Glücksfall – ein «Once in a lifetime»-Job, wie er später in der Presse sagen sollte. Sein erster grosser Fall.
Er sei sofort von Erika M.s Unschuld überzeugt gewesen. Und hatte darum nur ein Ziel: Freispruch. Bloss auf eine mildere Strafe zu plädieren, sei für ihn nie in Frage gekommen. Und so wurde das schwächste Glied in der Beweiskette der Staatsanwaltschaft zu seinem Gegner: Jonas, der einzige Zeuge. Er sollte unglaubwürdig erscheinen – nicht nur vor Gericht, sondern auch in der Öffentlichkeit.
Jonas’ Aussage wird als «konstant und glaubhaft» bewertet
Das Problem des Verteidigers: Es gab keine Zweifel an Jonas’ Aussagen. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und auch mehrere Gerichte bewerteten sie als «konstant und glaubhaft». Das von Jonas geschilderte Aufeinandertreffen auf dem Spazierweg, die Details der Begegnung; alles authentisch.
Ein Gericht schrieb explizit: Wenn Jonas Aussagen erfinden würde, um sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, würde er sich dramatischere Szenen ausdenken als ein «unverfängliches Treffen, dessen Relevanz erst in Kombination mit weiteren Elementen» ersichtlich wird.
Jonas wird bei der Kesb gemeldet
Doch da war noch diese mysteriöse Gefährdungsmeldung, die just ein paar Wochen nach Lisas Tod anonym bei der Berner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb eingegangen war. Zu einem Zeitpunkt, als noch gar niemand wusste, wer überhaupt Zeuge war – ausser den direkt Involvierten.
Die Meldung betraf Jonas, den wichtigsten Zeugen. Und obwohl bis heute niemand weiss, wer sie eingereicht hat und vor allem, warum – für den Pflichtverteidiger war sie ein gefundenes Fressen.
Man mache sich «grosse Sorgen» um Jonas, steht in der holprig formulierten Meldung an die Kesb. «Er erzählt anderen, zum Teil viel jüngeren Kindern, dass er das Mädchen im Könizbergwald mit einem Stein erschlagen hat.» Er sollte eher unter Schock sein, als solchen Seich zu erzählen. Mit einem ermordeten Mädchen mache man nicht solche Spässe, um Aufmerksamkeit zu bekommen. «Es ist offensichtlich, dass mit Jonas etwas nicht stimmt.»
Die Polizei befragte darauf Jonas’ Lehrerin, die zu Protokoll gab, er zeige zwar manchmal «schwieriges Verhalten», sei ein «Laueri». Doch über die Ereignisse betreffend Lisa habe er nie etwas erzählt. Sie wusste noch nicht einmal, dass er der Zeuge war. Weitere Abklärungen traf die Polizei nicht. Die Ermittler schienen davon auszugehen, dass die Meldung aus rein prozesstaktischen Gründen eingereicht worden war – um den Zeugen zu diskreditieren.
Schutz vor den Methoden der Verteidigung
Anwalt Müller wusste all das aus den Akten. Dennoch zitierte er die Kesb-Meldung vor dem Berner Regionalgericht. Diese News im «Mordfall Könizbergwald» verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Verteidigung vermute, Jonas wolle «nur Aufmerksamkeit» oder könne «gar selbst der Täter sein», so «Blick» und «20 Minuten». Sogar «Schweiz aktuell» berichtete davon.
«Es war richtig schlimm», erinnert sich Jonas’ Mutter. «Der Anwalt hat völlig vergessen, dass unser Sohn erst zwölf war.» Und was er mit diesen Mutmassungen auslöste.
«Ethisch fragwürdig»
Jonas’ Kinderanwältin – natürlich Partei in diesem Fall – hält das Vorgehen des Anwalts für beispiellos. Natürlich müsse ein Anwalt für die Verteidigung seiner Mandantin einen möglichen alternativen Tathergang aufzeigen, sagt Laura Jost. «Doch in so einem öffentlichen Prozess eine minderjährige Person in den Fokus zu rücken, halte ich für ethisch äusserst fragwürdig.» Müller habe bewusst in Kauf genommen, dass schweizweit diskutiert werde, ob Jonas selbst sogar als Täter in Frage komme – ohne dass es dafür irgendwelche Indizien gegeben hätte.
Das Berner Obergericht stellte Jonas die Anwältin Jost für den folgenden Berufungsprozess zur Seite. Das ist sehr unüblich und im Gesetz so nicht vorgesehen. Doch das Gericht wollte den Buben vor den Methoden der Verteidigung schützen. Denn Anwalt Müller machte weiter.
Der Verteidiger nutzt die ganz grosse Bühne
Wohl, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, gab er nach dem erstinstanzlichen Urteil dem bekanntesten deutschen True-Crime-Podcast, «Zeit Verbrechen», intimste Einblicke ins laufende Strafverfahren. Jede Folge wird von rund einer halben Million Menschen gehört.
Und Müller nutzte die grosse Bühne. Bereits nach drei Minuten bot er der «Zeit»-Reporterin Anne Kunze das Du an und erzählte, wie er – der aus privilegiertem Elternhaus komme – der armen Erika M. helfen wolle. Jonas würdigte er vor dem Millionenpublikum als «Praschalleri» herab, einen Angeber mit grossem Geltungsdrang. Seine Aussagen seien «sehr, sehr überbewertet».
Er erzählte auch, wie gern er ihn vor Obergericht in die Mangel genommen hätte – so, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt. Es sei doch seltsam, dass die Staatsanwaltschaft ihren wichtigsten Zeugen bei der Verhandlung nicht mehr befragen wollte. Warum wohl?, fragte er die Reporterin, ohne eine Antwort zu erwarten. «Weil man Angst hat, er könnte dann noch eine zweite oder dritte Version seiner Geschichte erzählen?»
Dass sich das Obergericht auch intensiv mit dieser Frage beschäftigte und gar entschied – obwohl nur in Ausnahmefällen möglich –, Jonas ein drittes Mal zu befragen, wurde verschwiegen. Genauso wie die Tatsache, dass Müller online zugeschaltet war.
Der Verteidiger nimmt Stellung
Was sagt Moritz Müller dazu? Der Anwalt hat sich bis heute nie bei Jonas’ Familie gemeldet – obwohl ihm sowohl die Mutter als auch die Kinderanwältin Briefe und Abmahnungen geschickt haben. Auch den Beobachter vertröstete er mehrfach. Doch irgendwann klappt es wenigstens mit einem Anruf.
Müller spricht leise. Er wirkt nicht wie der knallharte Strafverteidiger, der über Leichen geht. «Ich habe nie gesagt oder plädiert, Jonas komme als Täter in Frage. Wenn der ‹Blick› oder ‹20 Minuten› das so tickern, kann ich nichts dafür.» Menschlich verstehe er, dass es für die Familie «sehr anspruchsvoll» sei, mit diesem Fall umzugehen – wie für alle Beteiligten in diesem Strafverfahren. «Es ist aber meine Aufgabe, meine Klientin bestmöglich zu verteidigen.»
Zudem habe er im Verfahren durchaus auch versucht, Jonas zu schützen. Zum Beispiel, indem er bei der erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung eine vorgelagerte Befragung verlangt habe. Später vor dem Obergericht habe er zwar eine Befragung im Gerichtssaal verlangt – «gegen den abschlägigen Entscheid opponierte ich aber nicht».
Und zum Podcast meint Müller: Dem habe er nur zugestimmt, weil er gefunden habe, seine Klientin sei zuvor medial vorverurteilt worden. Es sei ihm immer um sie gegangen – «und nicht darum, mich irgendwie darzustellen».
«Ich kann nicht sagen, dass ich alles richtig gemacht habe. Aber ich habe es probiert», sagt Müller. «Vielleicht wäre es rückblickend schlauer gewesen, um mehr Verständnis für die Verteidigung zu werben.» Während des noch immer laufenden Verfahrens sei es aber heikel, mit der Familie des Zeugen Kontakt aufzunehmen. Vielleicht werde er sie kontaktieren, wenn alles vorbei sei.
Das zweite Opfer im Mordfall Könizbergwald
Müllers Strategie – das lässt sich heute sagen – ist gescheitert. Der fünfteilige Podcast bilanzierte nach rund fünf Stunden, Erika M. sei vermutlich die Täterin. Und auch vor Gericht hatte Müller bisher keinen Erfolg.
Nur eins, das hat Müller definitiv erreicht – oder zumindest bewusst oder unbewusst in Kauf genommen: der tragische «Mordfall im Könizbergwald» hat ein weiteres Opfer gefordert: Jonas. «Er trägt nun eine Wunde in sich. Für immer. Das wäre nicht nötig gewesen», sagt seine Mutter.
* Namen geändert