Das Walliser Bergspital Visp hat Hochsaison
Knochenbrüche im Minutentakt

Immer öfter sind die Chirurgen mit Unfallfolgen konfrontiert, die auch sie nicht vollständig reparieren können. Bleibende Schäden sind die Folge.
Publiziert: 01.03.2017 um 17:39 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 14:38 Uhr
Notfall-Ärzte im Dauerstress
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SONNTAGSBLICK im Spital Visp:Notfall-Ärzte im Dauerstress
Cyrill Pinto

Kurz nach 13.30 Uhr wird klar, dass dieser Samstag im Spital in Visp VS alles andere als ruhig wird: Eine Maschine nach der anderen landet auf einem der beiden Heli-Landeplätze.

Um 13.37 Uhr liefert eine Ecureuil den nächsten Patienten auf dem Dach an. Erst wenn alle drei Rettungshelikopter der Air Zermatt in der Luft sind, kommt er zum Einsatz. Denn dieser Hubschrauber-Typ ist eigentlich nur für Taxi- und Transportflüge zugelassen.

«Zurzeit sind fünf unserer Helikopter in der Luft», sagt Rettungssanitäter Günther Willisch (43), während er auf einer Bahre eine verletzte Skifahrerin vor sich herschiebt. Im Minutentakt bringen sie Skifahrer mit gebrochenen Extremitäten, verrenkten Knien oder geborstenen Schultern nach Visp.

In den Alpen ist Hochsaison, Bergspitäler wie das in Visp sind jetzt im Dauerstress. «An Spitzentagen versorgen wir über 120 Patienten in unserer Notfallstation», sagt der medizinische Leiter Andreas Frasnelli (38). Was der Arzt da noch nicht weiss: An diesem Tag wird das Notfall-Team nahe an diese Zahl herankommen.

Bei der ersten Abfahrt passiert es

Bereits kurz nach 13 Uhr war Jan Fuite (9) mit seinem Vater Johannes (37) aus Bellwald VS eingeflogen worden. Eigentlich wollte die Familie aus Holland im Oberwallis ein paar Tage Winterferien an der Sonne und im Schnee geniessen.

Beim Skifahren gestürzt: Jan hat sich den rechten Unterschenkel gebrochen – jetzt wartet er auf seine Operation.
Foto: Thomas Andenmatten

Doch schon nach den ersten Abfahrten mit Ski am Samstagmorgen passierte es: Jan stürzte, überschlug sich und blieb mit starken Schmerzen im rechten Unterschenkel liegen. «Schnell wurde klar, dass etwas gebrochen war», sagt sein Vater, der im Heli mitgeflogen war und jetzt etwas verloren vor Koje sechs in der Notfallstation steht.

Hinter der Schiebetür sind Ärzte und Pfleger gerade daran, Jan aus seinen Skischuhen und dem Anzug zu schälen. Das tut weh. Dicke Tränen kullern über seine Wangen.

In der Notfallstation warten jetzt Dutzende auf ihre Diagnose. Das Team ist Stress gewohnt: Drei Mal am Tag gibt es einen Peak – eine Zeit, in der verletzte Schneesportler rudelweise eintreffen: Zwischen zwölf und 13 Uhr, zwischen 15 und 16 Uhr, dann nochmals nach 17 Uhr.

Dann kommt es schon mal vor, dass mehrere Helikopter über dem Spitaldach kreisen müssen, bis sie landen können. Nicht für alle Patienten ist dann eine Notfallkoje frei.

Operation unumgänglich

Pro Jahr verunfallen laut Statistik der Beratungsstelle für Unfallverhütung auf Schweizer Pisten durchschnittlich rund 75'000 Wintersportler, 60'000 davon sind Skifahrer. Der Anteil ausländischer Gäste liegt bei 43 Prozent.

Ein Blick in die Suva-Statistik zeigt: Während die Zahl der hier registrierten Ski- und Snowboardunfälle von Jahr zu Jahr schwankt, nimmt die Zahl der verunfallten Langläufer zu: 2010 waren es erst 760, vier Jahre später mit 1480 fast doppelt so viele.

Jetzt wird im Visper Notfall eine Langläuferin mit starken Schmerzen im Hüftgelenk eingeliefert. Es ist 15 Uhr an diesem sonnigen Samstag. 11 der 19 Notfallkojen sind belegt. Jan hat Koje Nummer sechs. Oberarzt René Furler (54) bespricht mit Vater und Mutter Fuite die Röntgenaufnahmen: «Waden- und Schienbein sind gebrochen, eine Operation ist unumgänglich.»

Das Röntgenbild zeigt: Schien- und Wadenbein von Jans Unterschenkel sind gebrochen und müssen fixiert werden.
Foto: Thomas Andenmatten

Vor Koje vier wird es gerade hektisch: Das Team versammelt sich um Chefarzt Andreas Frasnelli. Nach ein paar Minuten schieben Retter eine junge Frau in die Station. «Spaltensturz am Alphubel.

Die Patientin stürzte 30 Meter tief, steckte mindestens anderthalb Stunden kopfüber in der Spalte. Hypothermie, starke Schmerzen am linken Oberarm und in der Hüfte», gibt der Rettungssanitäter durch. Die junge Frau zittert stark. Das Thermometer zeigt Gefahr: 32 Grad Körpertemperatur. Das Team entfernt sofort die nasse Kleidung und schafft einen Heizlüfter heran, der warme Luft in eine Matte bläst, die über die Patientin gelegt wird.

Aus der Gletscherspalte auf die Intensivstation

Nach einer ersten Ultraschall-Kontrolle wird die 27-Jährige zum Röntgen gebracht. «Der Blutdruck ist tief», sagt eine der Pflegerinnen besorgt. «Danach in den Schockraum oder auf die Intensiv?» Chefarzt Frasnelli kommt mit seinem Team zum Schluss: Auf der Intensivstation ist die Patientin am besten aufgehoben.

In Koje acht wird derweil Ludwig Imboden (74) aus Zermatt VS behandelt. Beim dritten Riesenslalom-Training in Cervinia (I) ist er auf den letzten Metern in einer Linkskurve verunfallt. «Im rechten Knie gabs einen Klapf, dann fiel ich um und konnte nicht mehr aufstehen.» Auch Imboden wird noch an diesem Samstag am Knie operiert.

Klinikleiter Thomas Beck operiert sehr viele komplizierte Brüche, meist von verunfallten Skifahrern: «Die Verletzungen werden schwerer, die Brüche komplizierter.»
Foto: Thomas Andenmatten

Insgesamt 22'000 Eintritte verzeichnet die Notfallstation Visp pro Jahr, zu Spitzenzeiten vor allem verunglückte Wintersportler. Der absolute Rekord waren 157 Patienten vor zwei Jahren, kurz nach Weihnachten: «Es ist wie ein Schalter, der am 26. Dezember umgelegt wird», erklärt Chefarzt und Klinikleiter Chirurgie Thomas Beck (50).

Die Visper Chirurgen sind stolz auf ihre Höchstleistungen: Kaum ein Zentrumsspital behandelt während der Hochsaison mehr Traumapatienten als das im Oberwallis. Ist das Sprungbein eines Patienten wie ein Stempel in den untersten Teil des Schienbeins gedrückt, weiss Beck: Er ist auf der Schanze im Funpark zu wenig weit gesprungen und im Flachen gelandet. Schwere Brüche wie diese hat man hier in letzter Zeit öfter. 

Bruch mit Titanstange fixiert

Johannes Fuite begleitet unterdessen seinen Sohn hinauf in den zweiten Stock. Es ist 16.34 Uhr, als Anästhesiepflegerin Nadia Falà (32) die Narkose einleitet. Als Jan keine Reaktionen mehr zeigt, begleitet sie den Vater Johannes hinaus – beim Eingriff darf er nicht dabei sein.

Jeden Tag Höchstleistungen. Vor der Operation leitet das Anästhesie-Team bei Jan die Narkose ein. Kaum ein Zentrumsspital behandelt während der Hochsaison mehr Traumapatienten als das im Oberwallis.
Foto: Thomas Andenmatten

Chirurg René Furler wartet bereits auf seinen kleinen Patienten. Mit einem Röntgengerät prüft er die Position des Schienbeins, bevor er einen kleinen Schnitt macht und den Bohrer ansetzt. Er muss genau die Mitte treffen und ins Knochenmark hineinbohren.

Über den freigelegten Zugang hämmert er dann eine biegsame Titanstange in den Hohlraum. «Hier nicht zu stark hämmern», sagt er zu seiner Kollegin. Alle starren gebannt auf das Röntgenbild, auf dem zu sehen ist, wie sich die Stange an der Knocheninnenwand krümmt.

Als zwei Stifte alles fixiert haben, zwackt Furler deren herausstehende Enden ab und näht die kleinen Wunden zu. Nach knapp einer Stunde ist die OP vorbei, Jan kommt in den Aufwachraum und später auf die Kinderabteilung.

Doch es ist lange nicht Feierabend: Chirurg Furler wird mit seinem Team noch bis Mitternacht operieren, 115 Patienten wird die Notfallstation bis dahin behandelt haben.

Schon nach zwei Tagen darf Jan das Spital wieder verlassen, begleitet von seiner Mutter Martine (36) – im nächsten Jahr will Jan wieder auf der Piste stehen.
Foto: Thomas Andenmatten

Jan erholt sich schnell: Schon am nächsten Morgen kann er auf der Kinderabteilung im vierten Stock wieder lächeln, am Montagabend, nach rund zwei Tagen im Spital, darf er die Heimreise antreten: «Nächstes Jahr», sagt Johannes Fuite, «wird er wieder Skifahren.»

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