Das Dorf muss weg
So bereiten sich die Mitholzer aufs Abschiednehmen vor

Die Menschen verlassen Mitholz – aber sie tun es mit einer Perspektive. Das verändert die Stimmungslage im Dorf, in dem wegen des alten Munitionslagers alles sein Ablaufdatum hat.
Publiziert: 13:06 Uhr
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Dory Schmid wird Mitholz Ende März 2026 verlassen – mit einem Gemälde ihres Hauses.
Foto: Stephan Rappo

Darum gehts

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Daniel Benz und Jasmine Helbling
Beobachter

Wieder kleben graue Wolken an den Bergen. Der Sommer macht Pause – das scheint üblich zu sein, wenn wir nach Mitholz fahren. Vor gut einem Jahr waren wir das erste Mal hier, um Menschen zu treffen, die das Dorf im Kandertal verlassen müssen. Die Restgefahr, die vom alten Munitionslager ausgeht, zwingt sie dazu.

Damals, im Juni 2024, wurde aus Grau fast Schwarz – es schüttete wie aus Kübeln. Diesmal klart der Himmel nach und nach auf, und am Ende unseres Besuchs scheint sogar die Sonne auf die alten Apfelbäume in Dory Schmids Garten. Das passt zur Aufhellung in den Köpfen und Herzen der Leute von Mitholz.

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Es hätte schlimmer sein können

Natürlich: Dory Schmid wird noch immer wehmütig, wenn sie an den Tag denkt, an dem sie ihre Heimat verlassen muss. Wenn sie endgültig die Türe ihres Hauses zuzieht, das voller Spuren aus ihrem Leben und Erinnerungen an ihren früh verstorbenen Mann Toni ist. Der Termin ist inzwischen gefixt: Ende März 2026.

Und doch ist die 65-Jährige, die ihr Tal aus freien Stücken niemals verlassen würde, an einem anderen Punkt als vor Jahresfrist. «Viel weiter.» Das hat mit einem Ort zu tun, der Luftlinie kaum 20 Kilometer entfernt liegt, auf der anderen Seite der Berge im Lötschental. «Was in Blatten passiert ist, hat mich als Berglerin erschreckt», sagt Schmid. Aber es habe ihr auch die Augen geöffnet. «Wir wissen wenigstens, wo es hingeht, wir haben eine Perspektive. Das haben die Menschen in Blatten nicht.» Und deshalb: «Es wäre nicht recht, würden wir noch klagen.»

Manchmal können Naturkatastrophen Ansichten verändern. Bei Dory Schmid wechselt das Pendel gerade seine Richtung, vom Weggehen hin zum Ankommen. Der neue Ort wird schleichend wichtiger als jener, der verlassen wird. Ihr künftiges «Dahiime» entsteht in Kandergrund, im Neubau ihres mittleren Sohnes Matthias. Die Tiefbauten sind gemacht, jetzt werden die Wände hochgezogen.

Dory Schmid unter ihrem Apfelbaum. Im November wird er gefällt.
Foto: Stephan Rappo

Im alten Haus erlebt Dory Schmid derweil einige letzte Male ganz bewusst – die letzten Ostern, den letzten Sommer, die letzte Apfelernte. Im Mai war sie auch zum letzten Mal am Arbeiten: Nach 47 Jahren am Spital in Frutigen ist definitiv Schluss. Sie kommt damit besser zurecht als gedacht. Mehr freie Zeit hat ja sein Gutes. Im Frühling ging es nach Polen, ein Besuch bei einer früheren Arbeitskollegin. Interessant wars, wenngleich: «Eine Woche weg von hier geht gut, zehn Tage sind zu viel.»

Ein Andenken fürs neue Zuhause

Dory Schmids Ablösungsprozess hat auch positive Aspekte: In Mitholz ist ein Kunstwerk entstanden! Der Kunstmaler Menel Rachdi, ein Bekannter der Familie, sass drei Tage in der Wiese, um in kräftigen Farben das alte Haus abzubilden – auf zwei hölzernen Türchen des Kachelofens. «Das Bild bekommt einen Ehrenplatz in meiner neuen Wohnung», sagt Schmid. Ein Gemälde als Bindeglied zwischen ihrem bisherigen und dem künftigen Lebensmittelpunkt.

Das Kunstwerk zeigt das alte Haus in Blickrichtung zur Fluh, in der das verwünschte Munitionslager steckt. Zu sehen ist auch ein Verkehrsschild mit der Tempobegrenzung 60. Mit der vorderen Ziffer sei der Künstler nicht zufrieden, erzählt Schmid. Tatsächlich sieht sie eher aus wie der Buchstabe G – und daraus wird ein «Go», englisch für «gehen». «Passt doch!»

Es klart auf im Tal.
Foto: Stephan Rappo

Auf nach Mühlethurnen!

Auch wir müssen gehen. Wir wollen noch zu David Reichen, einer, der Mitholz schon verlassen hat. «Richtet ihm liebe Grüsse von mir aus», ruft uns Dory Schmid nach. Die Mitholzer haben einander aus den Augen verloren, aber nicht aus den Gedanken.

Wir schnallen die Grüsse auf den Rücksitz und fahren los. Vorbei an den Schauplätzen früherer Besuche: dem Restaurant Balmhorn, wo sich Gisella Nünlist aufs neue Amt als Gemeinderätin vorbereitete. An der Holzschnitzerei beim Blausee, wo David Reichen von mehr Weitsicht träumte. Hinaus aus Mitholz, wo vor einem Jahr ein langer Abschied begann. Durch Kandergrund, wo Dory Schmid ihr neues Kapitel erwartet.

Angekommen in Mühlethurnen, fast schon Flachland, treffen wir im ehemaligen Gasthaus Adler auf David Reichen; gelbes Shirt, farbige Sonnenbrille. «Wer ist noch oben? Was hat sich verändert?», will er wissen. Ehrliche Antwort: wenig. Viel Verkehr, kaum Menschen. Ein winziger Flohmarkt beim «Balmhorn», ein einziger Stand. Das einsame Schild vom «Openair Mitholz», das an eine vergangene Lebendigkeit erinnert. Und zur Busstation kommen am Morgen immer weniger Schulkinder.

David Reichen mit seiner Frau Manuela.
Foto: Stephan Rappo

Reichen trägt Dory Schmids Grüsse in die Nachbarwohnung, zu seiner 90-jährigen Mutter Erika. Auch sie hört gerne aus der alten Heimat. Und doch sagt sie: «Ich bin jetzt hier und denke gar nicht mehr zurück.» Vielleicht steckt es in den Genen, diese Anpassungsfähigkeit und die Lust aufs Neue. Das Grundvertrauen: Es kommt schon gut.

Mit 18 war David Reichen mit den Eltern ein Jahr in Kanada. Er sprach kaum Englisch, kannte niemanden, alles war neu. «Einmal standen wir in diesem riesigen Supermarkt und suchten so etwas wie Aromat – keine Chance.» Der Wechsel nach Mühlethurnen war dagegen ein Klacks: 40 Minuten Fahrt, gleiche Sprache, vertraute Abläufe.

Die alte Heimat in der neuen

Schon im ersten Artikel der Beobachter-Serie sagte der 50-Jährige: «Es gibt mehr als einen schönen Ort.» Wie Dory Schmid zieht er den Vergleich zu Blatten: Das Unglück im Lötschental habe vieles relativiert. «Wir können uns glücklich schätzen. Wir hatten Zeit, eine neue Bleibe zu suchen und Erinnerungsstücke zu packen.» Darunter ein hölzernes Buffet, das er vor 30 Jahren selbst angefertigt hatte. Passend zur Wohnung, in der Böden, Decken, Wände, Möbel, ja sogar Uhren aus Holz sind.

«Alles selbst gemacht», sagt Reichen stolz – gemauert, gezimmert, gehämmert. Bei unserem letzten Besuch stapelten er und seine Frau Manuela noch Ziegel in den alten Festsaal, zwei Monate später war die Wohnung bezugsbereit. Heute bildet die knallrote Bauhaus-Küche das Zentrum. Ringsum: Gitarre, Banjo, Handorgel. «Ich spiele fast nur noch auf dem Örgeli», sagt Reichen. Volkstümliches. Auf dem Plattenspieler liegt eine Vinylplatte: Eiger, Mönch und Jungfrau, darüber der Schriftzug «Im Berner Oberland». Ein weiteres Stück alte Heimat.

David Reichen bei der Arbeit.
Foto: Stephan Rappo

Im richtigen Berner Oberland hat sich bei Dory Schmid Überraschendes zugetragen. «Hier geht eine Geschichte zu Ende», schrieben wir letztes Jahr über den ältesten Apfelbaum, der plötzlich – wie aus Trotz – kein Obst mehr trug. Nun ist er wieder aufgeblüht, seine Äste sind voller Früchte. Als wollte der Baum seine verbleibende Zeit in Mitholz noch einmal auskosten, bis zuletzt.

Im November werden die Schmid-Söhne vorbeikommen und ihn fällen. Aus dem Holz soll eine Sitzbank werden, die ihren Platz in Dory Schmids neuer Wohnung findet. Noch mehr Symbolik: In Mitholz hat alles sein Ablaufdatum – aber irgendwie auch seine Zukunft.

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