Erst als sich Simon M.* (59) Schritt für Schritt dem Bett nähert, begreift er. Seine Mutter regt sich kaum, die Lider geben immer wieder nach. Sie schnappt nach Luft. Sie murmelt, möchte etwas sagen. Doch Worte zu formulieren, gelingt ihr nicht. Simon M. muss erkennen: «Plötzlich lag meine Mutter da im Sterben.» Er nimmt ihre Hand. Ein letztes Mal.
Nach sechs Wochen Besuchsverbot durfte er vergangenes Wochenende die Mutter im Pflegeheim wiedersehen. Um sich zu verabschieden – völlig unverhofft für immer.
Am Sonntagnachmittag schliesst Andrea M.* (†85) die Augen. Hört auf zu atmen. Ihr Herz bleibt stehen. Die Seniorin war nicht am Coronavirus erkrankt. Besuch durfte sie trotzdem über Wochen nicht haben. Ihr Sohn ist überzeugt: «Meine Mama starb an der Einsamkeit.»
Vor dem Verbot ging es ihr gut
Vor dem Besuchsverbot habe er sie noch regelmässig auf Spaziergänge mitgenommen. Andrea M. litt an Alzheimer und konnte nach einer Hüftoperation nicht mehr selbständig gehen. Ihr Sohn erzählt: «Wir haben noch gemeinsam das Laufen am Rollator geübt.»
Während der Treffen sei die Mama stets aufgeblüht, war gesprächig und aufgeweckt. Simon M. erzählt: «Sie konnte mir stundenlang die Umgebung beschreiben, bis aufs kleinste Detail.»
Doch in den Wochen der Trennung baute die 85-Jährige rapide ab. Simon M. kann sich nur ausmalen, wie das Besuchsverbot seiner Mama zusetzte. Plötzlich besuchte sie keines ihrer Kinder mehr. Warum – das konnte Andrea M. wegen der fortschreitenden Krankheit nicht mehr verstehen.
Massnahmen seien «unverhältnismässig»
Der Sohn schlägt der Heimleitung vor, ein Familienmitglied zu bestimmen, das die kranke Mutter ab und zu besuchen darf. Er versicherte, im Homeoffice sowieso isoliert zu sein. Doch der Vorschlag wird abgelehnt.
Gegenüber BLICK begründet der Heimleiter: «Das Besuchsverbot ist vom Bund und von den Kantonen vorgegeben, und wir Pflegeheime müssen uns daran halten.»
Simon M. kann die Entscheidung des Heims mittlerweile zwar nachvollziehen. Doch die strikten Massnahmen des Bundes hält er für unverhältnismässig. Er betont: «Einsamkeit kann ebenso gefährlich sein.»
Abschied mit Schutzmaske
Während er im April erfolglos um ein Treffen mit der Mutter kämpft, verschlimmert sich ihr Zustand zunehmend. Simon M. ahnt zunächst nichts. Erst als ein Pfleger des Heims am vergangenen Freitag anruft. Andrea M. gehe es nicht gut, sagt er. Sie habe Mühe mit dem Atmen. Aber er solle sich keine Sorgen machen, sie sei nicht infiziert.
Simon M. hat dennoch ein mulmiges Gefühl. Tags darauf hält er es nicht mehr aus – ruft selbst im Heim an. Plötzlich heisst es, seine Mutter sei im Endstadium angekommen. Sie bewege sich kaum noch. Der Sohn ist geschockt: «Ich hätte nie erwartet, dass es so schnell bergab gehen kann.»
Noch am selben Tag fährt er ins Pflegeheim. Ausnahmsweise erlaubt die Leitung ihm und seinen Geschwistern einen kurzen Besuch: höchstens 15 Minuten, mit Maske.
«Als ich reinkam, war sie bereits tot»
An die letzte Begegnung erinnert er sich genau: «Obwohl sie immer wieder wegdöste, schenkte mir meine Mama noch ein Lächeln. Sie drückte meine Hand und liess nicht mehr los.»
Am nächsten Morgen will er sich noch einmal verabschieden. Ihr ein zweites Mal die Zuneigung und Nähe geben, die sie in den letzten Wochen vermisste. Als er ankommt, ist sein Bruder noch im Zimmer, Simon M. muss warten. «Wir durften nur gestaffelt zu ihr.»
Zehn Minuten sei Andrea M. alleine gewesen, nachdem sein Bruder das Zimmer verlassen habe. «In dieser Zeit konnte sie loslassen. Als ich reinkam, war sie bereits tot.»
Kein gemeinsamer Ausflug am Muttertag
Kein Spaziergang. Kein Training mit dem Rollator. Kein Gespräch. Simon M. hätte gerne mehr Zeit gehabt, wäre lieber da gewesen, wollte die kranke Mutter nicht vereinsamen lassen.
Ab heute Samstag lockern die meisten Kantone das Besuchsverbot in den Altersheimen. Pünktlich zum Muttertag dürfen Angehörige unter «bestimmten Bedingungen» die Bewohner wieder treffen.
Jedes Jahr schenkte Simon M. seiner Mama zum Muttertag einen Blumenstrauss. 2019 nahm er sie auf einen Ausflug mit. Auch in diesem Jahr soll Andrea M. Blumen erhalten. Ihr Sohn wird den Strauss aber auf ihr Grab legen müssen.
* Name geändert
Alzheimer Schweiz verfolgt die Coronavirus-Pandemie seit Beginn mit grosser Sorge. Nicht nur, weil die meisten Demenz-Patienten bereits älter sind und zur Risikogruppe gehören. Sondern vor allem auch, weil das Besuchsverbot bei den Erkrankten und ihren Angehörigen grosses Leid verursachen kann.
Geschäftsleiterin Stefanie Becker (53, Bild) betont: «Einsamkeit ist bei uns immer wieder ein grosses Thema. Doch in Zeiten des Lockdowns mehr denn je.»
Gerade bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz würde die Bedeutung von sozialen Kontakten häufig unterschätzt. Mit der Begründung abgetan, die Patienten würden ihre Familien sowieso nicht mehr erkennen. «Vielleicht können sie den Namen nicht nennen. Doch spüren sie die Vertrautheit des Gegenübers. Das ist ein enorm wichtiger Anker», so die Expertin.
Das Fehlen von Kontakten und Zuneigung erleben sie als besonders schmerzlich, weil sie den Grund nicht verstehen. Oder ihn vergessen. Die plötzliche Einsamkeit kann zu Depressionen führen. Becker erklärt: «Diese verschlimmern wiederum die Demenz-Symptome merklich und beschleunigen den Krankheitsverlauf.»
Patienten würden aufhören zu essen. Sie seien häufiger verwirrt – manche zunehmend nervös. «Die Situation ist enorm belastend. Für Betroffene und Beteiligte», sagt Becker.
Alzheimer Schweiz habe den Verbänden und Heimen geraten, sich bei den kantonalen Gesundheitsdirektionen zu informieren. Die Geschäftsleiterin ist sich sicher: «Es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben, Besuche für Demenzerkrankte als Ausnahme zuzulassen.»
Alzheimer Schweiz verfolgt die Coronavirus-Pandemie seit Beginn mit grosser Sorge. Nicht nur, weil die meisten Demenz-Patienten bereits älter sind und zur Risikogruppe gehören. Sondern vor allem auch, weil das Besuchsverbot bei den Erkrankten und ihren Angehörigen grosses Leid verursachen kann.
Geschäftsleiterin Stefanie Becker (53, Bild) betont: «Einsamkeit ist bei uns immer wieder ein grosses Thema. Doch in Zeiten des Lockdowns mehr denn je.»
Gerade bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz würde die Bedeutung von sozialen Kontakten häufig unterschätzt. Mit der Begründung abgetan, die Patienten würden ihre Familien sowieso nicht mehr erkennen. «Vielleicht können sie den Namen nicht nennen. Doch spüren sie die Vertrautheit des Gegenübers. Das ist ein enorm wichtiger Anker», so die Expertin.
Das Fehlen von Kontakten und Zuneigung erleben sie als besonders schmerzlich, weil sie den Grund nicht verstehen. Oder ihn vergessen. Die plötzliche Einsamkeit kann zu Depressionen führen. Becker erklärt: «Diese verschlimmern wiederum die Demenz-Symptome merklich und beschleunigen den Krankheitsverlauf.»
Patienten würden aufhören zu essen. Sie seien häufiger verwirrt – manche zunehmend nervös. «Die Situation ist enorm belastend. Für Betroffene und Beteiligte», sagt Becker.
Alzheimer Schweiz habe den Verbänden und Heimen geraten, sich bei den kantonalen Gesundheitsdirektionen zu informieren. Die Geschäftsleiterin ist sich sicher: «Es hätte durchaus Möglichkeiten gegeben, Besuche für Demenzerkrankte als Ausnahme zuzulassen.»