Sie war eine Legende. Dora Wüthrich († 95) verbrachte bis ins hohe Alter den Sommer mit ihren geliebten Geissen auf der Alp. Das brachte ihr den Namen «Geissen-Trini» ein. 2004 wurde sie zur Thunerin des Jahres gekürt, nachdem sie bei einem Brand eigenhändig alle Ziegen gerettet hatte. Danach setzte sie sich zur Ruhe, wollte in ihrem Haus in Thun BE den Lebensabend geniessen.
Das war ihr nicht vergönnt. Drei Tage nach ihrem 95. Geburtstag, bemerkt sie einen Mann vor ihrer Tür: Als sie öffnet, packt der komplett nackte Remo L.* (22) sie am Kopf und an den Händen und schleppt sie in die Küche. Dort reisst er dem Geissen-Trini die Hosen vom Leib und versucht, sie zu vergewaltigen.
Dora Wüthrich schreit und wehrt sich heftig. Auch noch, nachdem ihr Remo L. zwei Ohrfeigen verpasst. So schlägt die mutige Rentnerin den jungen Mann schliesslich in die Flucht. Verletzt kommt sie ins Spital.
«Sie stand völlig unter Schock»
Doch ihr Leben rettet das nicht. Drei Wochen später, am 29. Oktober 2010, stirbt Geissen-Trini. Ihr Neffe, Heinz Wüthrich (68), erzählt: «Sie hat sich nicht mehr erholt. Sie stand völlig unter Schock. Der Täter hatte ihr die Adern am Arm beinahe abgedrückt, man hätte vermutlich die Hand amputieren müssen.»
Remo L. ist schnell gefasst: Der junge Mann wohnt in der Nachbarschaft der Rentnerin, stellt sich nur kurze Zeit nach der Tat der Polizei. Gibt an, «irgendwas» gemacht zu haben, will sich aber an nichts erinnern.
Am 9. Oktober, am Abend vor der Tat, säuft er sich mit Freunden durch die Thuner Clubs. Morgens um sieben Uhr will die Gruppe ein Taxi rufen. Da ist Remo L. verschwunden. Eine Stunde später taucht er beim Geissen-Trini auf und will sie vergewaltigen.
Ihr Neffe Heinz Wüthrich wartet auf die Verurteilung von Remo L. Dann erfährt er: Der Fall wurde mit einem Strafbefehl erledigt. Er besorgt sich den Bescheid und ist entsetzt. Remo L. wird mit 550 Franken Busse bestraft. Und weiteren 1800 Franken Strafe auf Bewährung.
«Ich kann das Urteil nicht verstehen»
Die Staatsanwaltschaft stuft Remo L. als «selbstverschuldet unzurechnungsfähig» ein. Weil er während der Tat «in immensem Masse Marihuana und Alkohol» intus hatte. Ein «Blackout», so das Urteil.
Heinz Wüthrich ist wütend: «Meine Tante war völlig gesund bis zu dieser Tat. Doch dieser Vorfall hat sie gebrochen. Wäre das nicht passiert, wäre sie sicher nicht zu diesem Zeitpunkt gestorben. Wie kann es sein, dass jemand einen Menschen auf dem Gewissen hat und nur mit Busse bestraft wird?»
Das Gericht verweist auf ein Gutachten der Uni Bern: Es könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass Dora Wüthrichs Tod direkt mit der Tat zusammenhänge. Obwohl es im gleichen Gutachten ebenfall heisst, dass der Überfall massive Verletzungen hinterlassen habe.
«Ich kann das Urteil nicht verstehen», sagt Heinz Wüthrich traurig. «Vielleicht haben die Richter so entschieden, weil meine Tante nur eine einfache alte Frau war.»
Ihre letzte Ruhe hat Geissen-Trini auf ihrer geliebten Alp nahe dem Stockhorn gefunden.