Diese Rettungsaktion werden die Bergretter wohl nie vergessen: Am Dienstagmorgen befreien Helmut Lerjen (47) und Richard Lehner (48) eine Russin aus einer Gletscherspalte im Monte-Rosa-Massiv in Zermatt VS. Die Frau war zwei Tage und zwei Nächte in 10 bis 15 Metern Tiefe gefangen. Mit kurzen Hosen und barfuss! Durch Zufall haben Berggänger die Hilferufe der Frau erhört und Hilfe geholt.
Kurz nach 8 Uhr morgens geht der Alarm ein, Einsatzleiter Lerjen und Lehner rücken im Helikopter aus. Die Berggänger lotsen die Rettungsmänner zur Gletscherspalte, in der die Frau gefangen ist. «Als wir dort ankamen, war die Temperatur geschätzt zwei bis vier Grad, es war windstill», sagt Lerjen zu BLICK. «Aus dem Spalt hörten wir nur ein leises ‹Help›!»
Die Erleichterung war ihr anzusehen
Die beiden Bergretter sichern den Unfallort und montieren über der Gletscherspalte ein Dreibein, um die Frau hinaufzuziehen. Richard Lehner wagt sich in die Tiefe. Die Russin sitzt auf einer kleinen Gletscherbrücke und zittert leicht, beschreibt der 48-Jährige die Situation. «Als sie mich sah, hatte sie einen erleichterten Gesichtsausdruck.» Der Bergretter habe gefragt, ob sie verletzt sei. «Es geht mir gut», habe sie zu Lehner gesagt. Dann sei sie still gewesen.
«Sie hat sich mit einem Schlafsack und einer Decke warmgehalten», sagt Lehner. Der Schlafsack sei jedoch klatschnass gewesen, und die Frau habe keine Schuhe getragen. «Ich denke, sie hatte sehr kalte Füsse und wollte sie mit den Händen wärmen», sagt Lehner. Er legt der Frau einen Rettungsgurt an und befreit sie aus der Kälte.
Die Russin war unverletzt und hatte sich nur eine milde Unterkühlung zugezogen, schreibt die Air Zermatt. Die Körpertemperatur der Frau betrug laut einem Arzt noch 34 Grad. «Als sie später sagte, dass sie schon zwei Tage dort unten lag, konnte ich das kaum glauben», sagt Bergretter Lehner. «Die Frau hatte ein Riesenglück.»
Vielfach enden Spaltenstürze tödlich!
Einsatzleiter Helmut Lerjen macht den Job seit 22 Jahren und sagt zu BLICK: «So etwas habe ich noch nie erlebt. Dass jemand zwei Tage ohne Ausrüstung und mit kurzen Hosen in einer Gletscherspalte ohne gröbere Verletzungen überlebt, ist sehr selten.» Das hätte auch ganz anders laufen können: Vielfach würden Spaltenstürze mit schweren Verletzungen oder gar mit dem Tod enden. «Ohne die Berggänger, die den Notruf gewählt haben, wäre die Frau womöglich gestorben», so Lerjen.
Dabei hatte ihr Hüttenwart Kilian Emmenegger (35) noch von der waghalsigen Tour abgeraten. Seine Monte-Rosa-Hütte liegt nicht weit vom Unfallort entfernt, die Russin habe bei einer Angestellten nach dem Weg gefragt. Sie hatte auf einer Karte einen Weg entdeckt, der über den Gletscher führt. «Sie wollte nach Italien», sagt Emmenegger.
Sie trug bloss kurze Hosen und Turnschuhe
Emmenegger ahnte Böses, als er die Ausrüstung der Frau sah. «Sie hatte nur einen kleinen Rucksack, trug Turnschuhe und wollte so über den Gletscher», sagt der Hüttenwart. «Für diese hochalpine Tour braucht man mindestens Steigeisen, ein Seil, einen Klettergurt, und man geht sicher nicht allein.»
Die Russin trug aber bloss kurze Hosen und Turnschuhe. «Das ist kein Spaziergang hier oben. Das haben wir der Frau auch gesagt», so der Hüttenwart. Doch die Frau hörte nicht auf die Ortskundigen und marschierte kurzerhand dem Schnee entgegen.
Mit Schnee seien Gletscherspalten schwer zu erkennen, sagt Bergretter Lehner. «Ich glaube, sie hat die Gletscherspalte nicht gesehen und ist dann hineingefallen.»