Ein Foto aus guten alten Tagen hat jeder. Es zeigt den Hof, die Felder, das Bauernhaus aus der Vogelperspektive. Bei Silvano Belotti (43) hängt ein solches an der Wohnzimmerwand. «Schon mein Grossvater hat hier gelebt», sagt er und zeigt auf das Bild, «wir sind hier aufgewachsen. Daran hängen viele Erinnerungen.»
Belotti ist einer jener Bauern im Tessiner 2600-Einwohner-Dorf Camorino, die ihr Land wegen der Neat verloren. Dort, wo er einst die Felder pflügte, haben Bagger die Erde aufgerissen. Hier führt die Zufahrtsstrecke durch zum Nordportal des Ceneritunnels, der 2020 eröffnet wird. Nach dem Gotthard-Basistunnel ist er das zweite Neat-Gross-projekt auf der Gotthard-Achse.
«Das tut weh»
Kurz vor dem Tunnel baute die Alptransit AG einen Bahnknoten mit Brücke und Trassee. «Drei Bäumchen sind geblieben», sagt Silvano Belottis Vater Sergio (69), «das tut weh.» Vater und Sohn sind entschlossen zurückzukaufen, was von ihrem Land übrig blieb. Sobald der Spuk vorüber ist.
Das Bauprojekt frass in Camorino 50 Hektar Agrarland – gut ein Drittel der Landwirtschaft. Das Trassee ist fast fertig, bis 2019 sind die Baustellen demontiert. Dann kommt die Stunde der Wahrheit. «Die Rückgabe der Felder wurde uns versprochen», sagt Belotti Junior. «Schriftlich haben wir das leider nicht.»
Vor zwanzig Jahren begann die Alptransit AG, Land aufzukaufen. «Man drohte uns mit Zwangsenteignung und drückte den Preis auf 30 Franken pro Quadratmeter», erzählt Silvano Belotti. Den grossen Reibach habe mit dem Verkauf niemand gemacht. «Wir alle mussten uns eine neue Existenz aufbauen. Dafür reichte die Entschädigung aber nicht. Die meisten sind heute verschuldet.»
Bei Romano Reboldi (50) hat Landverkauf unter Zwang traurige Tradition. In den 70er-Jahren war schon sein Vater vertrieben worden, damals wegen der Autobahn. «Eine schreckliche Zeit», sagt Reboldi, «sie stellten einfach einen Steinbrecher neben unser Haus. Der Lärm war unerträglich.»
Ins Nachbardorf gezogen
Ein Leben zwischen Baustellen wollte Romano Reboldi seiner Familie nicht auch noch antun. Darum leistete er keinen Widerstand, als die Alptransit AG 1996 an seine Tür klopfte. «Es ging alles schnell, schnell. Dann musste ich wieder von vorne anfangen, mit neuen Schulden.» Einst besass er Reben, Gemüsefelder, Milchkühe. Heute lebt er im Nachbarort von der Fleischproduktion.
Giorgio Stornetta (59) ist der Einzige, der zwischen Baustellen und Schutthalde ausharrt. Seine Entschlossenheit zu bleiben, ist so fest wie der Beton am Rande seiner Wiese. Der Primarlehrer stammt aus einer alten Bauernfamilie und lebte im Elternhaus. «Ich musste das Haus räumen, wegen 1,5 Meter provisorischer Strasse», sagt er verärgert. Er baute ein neues gleich daneben – mit Blick auf Hochgeschwindigkeitsstrasse und einem Auffangbecken für Schlammwasser.
Rückendeckung erhalten die Landwirte vom Tessiner Bauernverband. «Finger weg vom Agrarland», heisst es in einem Beschluss von 2015. Verbandspräsident Roberto Aerni (62) fordert: «Gebt den Bauern ihr Land zurück. Und zwar so, wie sie es verlassen mussten. Schluss mit dem Abbau weiterer Landwirtschaft!»
Gemeinde erhält Land zurück
Auch die Gemeinde schielt auf das Land zwischen Autobahn und Schiene. Sie stritt sich mit der Alptransit AG um ein hundert Meter langes Bahntechnikgebäude. Die Eröffnung des Ceneri-Tunnels drohte sich zu verzögern.
Im Januar lenkte Camorino ein und erhält im Tausch jene 330'000 Quadratmeter Agrarland, um das auch die Bauern kämpfen – kostenlos. Gemeinderat Carlo Donadini (71): «Die Gemeinde will es der Landwirtschaft erhalten und verpachten.»