Das Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen teilte am Dienstag mit, dass eine Chefärztin wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden war. «Eine Patientin verstarb im Oktober 2007 nach der Geburt», hiess es. Das Kreisgericht Wil habe im Juni die verantwortliche Chefärztin zu 24 Monaten Gefängnis bedingt verurteilt.
Doch was an diesem Tag genau passierte, darüber schwiegen die Behörden. Die Anklageschrift, die Licht in die Sache bringen konnte, hält die Staatsanwaltschaft unter Verschluss.
Was wirklich geschah
Trotzdem kommt jetzt Licht ins Dunkel. Blick.ch hatte Einblick in die Anklageschrift gegen drei weitere Ärzte, die in diesem Fall ebenfalls angeklagt sind. Darin steht, was damals wirklich schief lief.
Das Drama beginnt am 12. Oktober. Die schwangere Julitta B.*, die schon sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, spürt einen Monat vor der Geburt ihr Kind nicht mehr. Im Spital Wil bestätigt sich der schreckliche Verdacht: Das Herz des Kindes schlägt nicht mehr.
Julitta B. will ihr totes Kind so schnell wie möglich zur Welt bringen. Die Geburt wird eingeleitet, um ein Uhr nachts setzen die Wehen ein. Doch etwas ist anders als bei den Geburten zuvor. Julitta B. hat höllische Schmerzen. Trotz Periduralanästhesie (PDA) und auch nachdem ihr totes Töchterchen Nuria Maria auf der Welt ist.
Fatale Fehldiagnose
Um 6.30 Uhr erleidet sie einen schweren Kreislaufschock, der Blutdruck sackt ab, der Puls fällt.
Doch die verantwortliche Chefärztin der Gynäkologie Cécile L. stellt eine fatale Fehldiagnose: Atonie, die Gebärmutter zieht sich nicht zusammen. Die Chefin weist das Pflegepersonal und die Hebammen an, den Bauch der Patientin zu massieren.
Nicht alle im Kreissaal trauen der Diagnose. Der Oberarzt der Anästhesie, der bereits nachts von einer Hebamme alarmiert wurde, weist im Tagesrapport um 7.20 Uhr auf die Möglichkeit eines Gebärmutterrisses hin und empfiehlt eine Operation.
Chefärztin will andere Operationen nicht absagen
Doch die Chefärztin beharrt auf ihrer Diagnose. Sie will die Operationen, die für diesen Morgen geplant waren, nicht absagen. Sie geht wieder zurück ins Tagesgeschäft, die Verantwortung für Julitta B. überlässt sie ihrer Oberärztin.
In den nächsten drei Stunden liegt Julitta B. blutend im Gebärsaal, später wird sie in den Überwachungsraum verlegt. Obwohl die Blutungen nicht aufhören, Herz, Leber und Nieren zu wenig Sauerstoff erhalten, werden keine weiteren Untersuchungen angeordnet.
Um 11 Uhr sieht Cécile wieder nach ihrer Patientin. Jetzt endlich und viel zu spät lässt sie Julitta B. ins Kantonsspital St. Gallen bringen. Um 11.26 Uhr verlässt die Ambulanz mit der sterbenden siebenfachen Mutter das Spital Wil.
Im Kantonsspital St. Gallen wird sofort der Gebärmutterriss diagnostiziert und notoperiert. Doch es ist zu spät. Julittas Herz ist zu schwach. Um 14.32 Uhr hört es für immer auf zu schlagen.
Niemand wagte Widerspruch
Fünf Jahre lang hielten die Behörden den Fall unter dem Deckel. Die Öffentlichkeit wurde nicht informiert. Erst vor zwei Monaten verhandelte das Gericht den Fall.
Die Anklage führte der Staatsanwalt Paul Frei. Er warf der Ärztin drei Fehler vor: ärztliche Inkompetenz, Desorganisation, starres und überholtes Hierarchiedenken. Frei spricht gegenüber der «Weltwoche» von «gravierendem Pfusch». Obwohl andere Ärzte Zweifel an der chefärztlichen Diagnose geäussert hätten, sei stur daran festgehalten worden. Niemand habe Widerspruch gewagt.
Trotzdem: Cécile L. arbeitet immer noch am Spital in Wil. Aber ihr wurde der Facharzt Urs Haller als Coach und Begleiter an die Seite gestellt.
Witwer wurde nicht über Urteil informiert
Der Witwer Daniel B. erfährt von den Medien vom Urteil gegen die Chefärztin. «Ich wurde nicht über den Prozess informiert. Das ist einfach nicht korrekt. Ich bin zutiefst geschockt», sagt der Bauer zu Blick.ch.
«Als meine Frau bei der Totgeburt unserer Tochter starb, wusste ich nicht, wie es weitergehen soll. Aber ich war es meinen Kindern schuldig, weiterzumachen.» Mehr will und kann er nicht sagen. Er schaut vorwärts und hat 2011 wieder geheiratet. (sas)
* Namen der Redaktion bekannt
«Fahrlässige Tötung» steht in den nächsten Wochen dreimal auf der Verhandlungsliste des Kreisgerichts Wil SG. Ohne weitere Ausführungen. An diesen Terminen müssen sich drei weitere Ärzte des Spitals Wil verantworten. Sie alle sind in den tragischen Todesfall Julitta B.* (†34) aus Mosnang SG involviert: eine Gynäkologie-Oberärztin, ein Anästhesie-Oberarzt und der Chefarzt Anästhesie. Für alle drei sind bedingte Geldstrafen und Bussen bis zu 6000 Franken gefordert.
Warum hat das Gesundheitsdepartement St. Gallen nicht informiert, dass der Fall Julitta B. nicht abgeschlossen ist? «Die Informationshoheit liegt beim Kreisgericht. Die Termine sind auf der Website aufgeschaltet», sagt Heidi Hanselmann Leiterin Gesundheitsdepartement St. Gallen. «Zu verbergen gibt es nichts.»
*Name der Redaktion bekannt
«Fahrlässige Tötung» steht in den nächsten Wochen dreimal auf der Verhandlungsliste des Kreisgerichts Wil SG. Ohne weitere Ausführungen. An diesen Terminen müssen sich drei weitere Ärzte des Spitals Wil verantworten. Sie alle sind in den tragischen Todesfall Julitta B.* (†34) aus Mosnang SG involviert: eine Gynäkologie-Oberärztin, ein Anästhesie-Oberarzt und der Chefarzt Anästhesie. Für alle drei sind bedingte Geldstrafen und Bussen bis zu 6000 Franken gefordert.
Warum hat das Gesundheitsdepartement St. Gallen nicht informiert, dass der Fall Julitta B. nicht abgeschlossen ist? «Die Informationshoheit liegt beim Kreisgericht. Die Termine sind auf der Website aufgeschaltet», sagt Heidi Hanselmann Leiterin Gesundheitsdepartement St. Gallen. «Zu verbergen gibt es nichts.»
*Name der Redaktion bekannt