Darum gehts
- Luzerner Ärzte vor Gericht, weil ein Baby während einer Leistenbruch-Operation starb
- Verdacht auf Williams-Beuren-Syndrom wurde vor OP nicht ausreichend berücksichtigt
- Staatsanwaltschaft fordert teilbedingte Freiheitsstrafe von drei Jahren für Ärzte-Team
Verhandlung beendet
Die Gerichtspräsidentin beendet die Verhandlung und wünscht den Anwesenden «Alles Gute». Das Urteil soll schriftlich eröffnet werden. Wann, ist noch unklar.
Anästhesist spricht – Vater von Ali weint
Nun dürfen die Ärzte ein Schlusswort sprechen. Der Anästhesist dreht sich zum Vater des verstorbenen Ali um. «Der Tag der OP war auch für mich ein einschneidende. Und Sie haben weiterhin mein tiefstes Mitgefühl.» Der Vater des Opfers hat Tränen in den Augen.
Das Verfahren sei eine Zerreissprobe gewesen. «Es hing für mich an einem seidenen Faden, ob ich meinen Job weiterführen werde», sagt der Arzt. Nur dank seines guten Teams sei er dabei geblieben.
Die anderen beiden Angeklagten verzichten auf ein Schlusswort.
«Ich fühle mit Ihnen»
Die Verteidiger nehmen nacheinander kurz Stellung. Der letzte von Ihnen, der Anwalt der Kinderchirurgin, wendet sich an den Vater von Ali: «Ich bin auch Vater, wir fühlen mit Ihnen.» Dennoch sei ein Freispruch nötig.
«Ehrenhaftes» Verhalten des Anästhesisten
Es sei «ehrenhaft», dass der Anästhesist die Verantwortung für die Weiterführung der OP auf sich genommen habe, fährt der Opferanwalt fort. Aber es greife zu kurz.
Damit beendet er sein Statement. Die Verteidiger fordern eine kurze Pause, um sich zu besprechen.
Opferanwalt verteidigt die Anklage
Der Opferanwalt kommt als Nächstes. Er will sich ausführlicher äussern – und sagt Folgendes:
- Die Leistenoperation sei nicht dringlich gewesen.
- Das Williams-Beuren-Syndrom sei siebenmal in Alis Akte vermerkt – und hätte den behandelnden Ärzten bekannt sein müssen.
- Die Fortsetzung der Operation nach dem Herzstillstand sei bei einem Patienten mit diesem Syndrom nicht vertretbar.
- Die Aussage, dass Ali so oder so verstorben wäre, sei reine Spekulation.
- Die Ursache des Todes sei die Einleitung der Operation gewesen
- Die Verteidiger würden sich in ihren Aussagen widersprechen, ob die drei Ärzte als Team agiert haben. Damit wolle man erreichen, dass niemand verantwortlich sei.
Deshalb wurde das Verfahren nicht eingestellt
Es geht weiter. Nun darf die Staatsanwältin auf die Argumente der Verteidigung reagieren. Sie erklärt, warum das Verfahren nicht eingestellt worden war – obwohl die Verteidigung und der Opferanwalt dies gewünscht hatten.
«Der Grund war, dass die Ärzte die Tathandlungen nicht gestanden haben», erklärt sie. Somit sei eine zentrale Voraussetzung für die Einstellung nicht gegeben.
«Tiefgehende Kerbe hinterlassen»
Es sei für seine Mandantin ein «Schock» gewesen, plötzlich als Beschuldigte dazustehen. «Das mehrjährige Verfahren hat bei ihr eine tiefgehende Kerbe hinterlassen», so der Anwalt der Kinderchirurgin.
Besonders schmerzhaft sei für sie gewesen, zu erfahren, dass die Staatsanwaltschaft von einer eventualvorsätzlichen Tötung ausgehe.
Der letzte Verteidiger schliesst sein Plädoyer. Die Gerichtspräsidentin unterbricht die Verhandlung bis 11.45 Uhr.
Die Argumente des letzten Verteidigers
Das stündige Plädoyers des Verteidigers der Kinderchirurgin lässt sich auf zwei zentrale Argumente reduzieren:
- Die Leistenoperation war dringlich. Die Zürcher Gutachter, die das Gegenteil behaupten, hätten nicht genug Fachwissen oder Erfahrung, um das zu beurteilen.
- Die Kinderchirurgin war nicht verantwortlich für den Entscheid, Ali nach dem ersten Herzstillstand erneut eine Narkose zu verabreichen. Die Verantwortung hier liege beim Anästhesisten.
Kinderchirurgin war nicht im OP
Seine Mandantin sei bei der Narkose nicht im Raum gewesen, erklärt der Verteidiger. Sie war also nicht dabei, als der Blutdruck absackte und das Herz stehen blieb. Stattdessen habe sie andere Eingriffe durchgeführt. «Sie hat nicht entschieden, ob die zweite Narkose durchgeführt werden soll.»
Noch mehr Kritik an Gutachtern
Auch der Verteidiger der Kinderchirurgin lässt kein gutes Haar an den Zürcher Gutachtern: «Ihnen fehlt die nötige chirurgische Expertise, um zu beurteilen, ob die Leistenoperation dringend war.»
Der Privatgutachter hingegen, der ein Spezialist sei, entlaste seine Mandantin. Offenbar stufte dieser die OP ebenfalls als dringend ein.
Die Zürcher Gutachter hätten nur Mutmassungen angestellt. Der Verteidiger zerlegt die Aussagen der ersten Gutachterin, die gestern befragt wurde. «Sie konnte nichts Brauchbares aussagen, weil ihr das Fachwissen fehlt.»
Und der zweite Gutachter, der als Zeuge ausgesagt habe, habe sein Statement stark relativiert. «Das sollte uns stutzig machen», so der Verteidiger.
Plötzlich ist da das Gesicht des kleinen Ali* (†10 Wochen). Er ist blass, wirkt zerbrechlich. Das Foto, aufgenommen nach seinem Tod, wird auf den Bildschirm projiziert. Mitten im Gerichtssaal – und vor den Augen des Kindsvaters, der mit seinen Gefühlen ringt.
Vor dem Luzerner Kriminalgericht stehen am Mittwoch Alis Ärzte: seine Kinderchirurgin, der Kinderkardiologe und Anästhesist. Sie wirken gepflegt, besonnen. Doch der Schein trügt.
Betroffene Angeklagte
«Mein Mandant hat sich ernsthaft überlegt, seinen Job an den Nagel zu hängen», sagt der Verteidiger des Anästhesisten vor Gericht. Der Kinderkardiologe trägt ein emotionales Statement vor: «Ich hatte unzählige schlaflose Nächte.» Und die Kinderchirurgin bezeichnet Alis Tod als Tragödie.
Was ist genau passiert? Ali kommt im November 2021 zur Welt. Er leidet an einem Herzfehler, hat Kleinwuchs. Seine Auffälligkeiten passen zum Williams-Beuren-Syndrom. Eine genetische Untersuchung soll Klarheit verschaffen.
Doch bevor diese stattfindet, setzt die angeklagte Kinderchirurgin eine Leistenoperation an. Jene Operation, bei der Ali sterben wird.
Und hier liegt der erste Streitpunkt: Kinder mit dem Williams-Beuren-Syndrom haben ein erhöhtes Risiko auf Komplikationen bei der Narkose. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, man hätte mit der Leistenoperation warten sollen, bis die Diagnose bestätigt wurde. Es sei kein dringender Eingriff gewesen. Die Verteidigung hält dagegen, stuft die Dringlichkeit als hoch ein.
Reanimation nötig
Am Tag der Operation verabreicht der Anästhesist dem kleinen Ali ein gängiges Narkosemedikament mittels Einatmen. Der Kreislauf des kleinen Buben bricht zusammen. Die Ärzte müssen ihn reanimieren. Er überlebt.
Der zweite Streitpunkt dreht sich um die Entscheidung, die Operation nach diesem ersten Kreislaufkollaps fortzuführen. Der Anwalt von Alis Eltern argumentiert, es sei doch gesunder Menschenverstand, eine Operation nach einem derart kritischen Moment zu unterbrechen. Einer der Gutachter, der als Zeuge geladen ist, unterstützt das Argument: «Ich hätte das Kind auf der Intensivstation beobachtet und die Zeit genutzt, um noch einmal die Befunde durchzugehen.»
Denn die beschuldigten Ärzte wussten nichts vom Verdacht auf das Williams-Beuren-Syndrom. Das bestätigen die Angeklagten in ihren Statements. «Doch selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es Gründe gegeben, die Operation mit der gleichen Narkosemethode weiterzuführen», sagt der Anästhesist in seinem Statement.
Konkrete Fragen beantworten will er nicht. Ebenso die beiden anderen Beschuldigten. Der Kinderkardiologe erzählt, er sei nach dem Vorfall in ein tiefes Loch gefallen. Doch medizinisch hätten er und seine Kollegen keinen Fehler gemacht: «Ich würde dem Anästhesisten meine eigenen Kinder anvertrauen!»
Gutachten gegen Gutachten
Die Kinderchirurgin ringt mit den Tränen, entschuldigt sich bei Alis Eltern. Doch auch sie betont, alles richtig gemacht zu haben.
Doch wer hat nun recht? Alle – und niemand. Die Ankläger und Verteidiger stützen sich auf unterschiedliche Gutachten, die Unterschiedliches aussagen. Die Staatsanwaltschaft bezieht sich auf die Analyse des Rechtsmedizinischen Instituts Zürich. Die Verteidiger auf mehrere privat erstellte Gutachten.
Nach etwa 6 Stunden Verhandlung beendet die Gerichtspräsidentin den ersten Verhandlungstag. Morgen folgen noch die Plädoyers von zwei Verteidigern. Doch schon jetzt ist spürbar, wie schmal der Grat zwischen medizinischer Verantwortung und Schicksal sein kann.
* Name geändert