Auslandsadoptionen verbieten? Eine Betroffene fände das richtig
«Ich musste mich meiner Vergangenheit stellen»

Rebekka Allemann erzählt die Geschichte ihres Lebens. Und zeigt auf, welche tiefen Spuren eine Adoption hinterlassen kann. Nun will die Schweiz die umstrittene Praxis verbieten – auch wegen systematischer Missstände.
Publiziert: 12.07.2025 um 19:40 Uhr
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Aktualisiert: 12.07.2025 um 21:03 Uhr
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Rebekka Allemann kam als Dreijährige aus Südkorea in die Schweiz, wo sie adoptiert wurde.
Foto: Thomas Meier

Darum gehts

  • Rebekka Allemann schreibt in einem Buch über ihre Erfahrungen als Adoptivkind aus Korea
  • Ab den 1960er-Jahren wurden über 200'000 südkoreanische Kinder zur Adoption freigegeben
  • Allemann ist für ein Auslandsadoptionsverbot
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Sara BelgeriRedaktorin

In ihrer frühesten Erinnerung ist Rebekka Allemann drei Jahre alt – sie sitzt in einem Flugzeug, das gerade in Seoul, Südkorea, abgehoben hat und in Genf landen wird. Sie weint und erbricht. Danach: nichts mehr.

Wo die Wurzeln der 53-Jährigen liegen, wo sie geboren wurde, wird sie erst viele Jahre später erfahren. Von ihren leiblichen Eltern.

Tausende Kinder aus Südkorea

Jetzt sitzt sie in einem Café in Zürich. Gerade hat sie noch für den Fotografen posiert, sichtlich nervös: Sie steht nicht gerne im Mittelpunkt. Und doch hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. In ihrem dieser Tage erschienenen Buch «Importkind» erzählt sie vom Aufwachsen zwischen zwei Welten – und von der Suche nach einer Herkunft.

Allemann wird 1972 als Eun-Jung Kwak in Jongno-Gu geboren, einem Stadtteil von Seoul. Der Vater ist blind und gehbehindert, die Mutter schön, die damals fünfjährige Schwester brav. Eigentlich wollen die Eltern beide Töchter zur Adoption freigeben. Doch weil ihre Mutter die Trennung von Eun-Jung so schlecht verkraftet, behält sie die grosse Tochter schliesslich doch.

Am Tag der Abreise bekommt die Dreijährige Kongnamul, blanchierte und eingelegte Sojasprossen, mit Reis und Suppe. Sie isst nur die Hälfte – den Rest will sie für später aufsparen. Doch wenige Stunden darauf sitzt sie schon in der Maschine nach Genf.

Ihr Fall ist damals nicht der einzige. Ab den Sechzigerjahren werden in Südkorea Tausende von Kindern zur Adoption freigegeben. Schätzungen gehen von über 200’000 aus. Rund 1000 von ihnen kommen in die Schweiz.

Sie möchte von Anfang an alles richtig machen

Allemann wächst im Zürcher Sihltal mit drei blonden, blauäugigen Geschwistern auf. Sie sind um viele Jahre älter als sie und interessieren sich – mit Ausnahme eines Bruders – nicht wirklich für sie, sind eifersüchtig. Ihre Adoptivmutter hatte eigentlich einen Buben aus Peru adoptieren wollen. «Aber Peruanerkinder waren dummerweise gerade aus, also komme ich ins Spiel», so Allemann nüchtern. Die neue Mutter hat ihr diesen Fakt immer wieder klargemacht.

Deshalb will Allemann möglichst von Anfang an alles richtig machen. Auch wenn sie sich deplatziert und falsch fühlt. Nachts macht sie ins Bett. Weil sie, wie sie schreibt, Angst hat. «Angst, nicht gut genug zu sein, nicht das zu erfüllen, was von mir erwartet wird. Ich will nicht enttäuschen, will kein Problemkind sein, das man bereut.» Also hört sie nach dem Abendessen auf zu trinken.

Pflicht zur Dankbarkeit

Eine unausgesprochene Regel: Sei dankbar. Sei brav. Immer wieder wird ihr gesagt, dass sie noch Glück gehabt hat. Hätte man sie nicht adoptiert, wäre sie «in Korea auf dem Strich gelandet», so ihre Adoptivmutter. Rückblickend sagt Allemann: «Dieses Gefühl, dankbar und loyal sein zu müssen, war ständig da.»

Ein offenes Gespräch über ihre Herkunft oder über ihre Gefühle bleibt aus. Das Schweigen überwiegt.

Auch ausserhalb der Familie hat es Allemann schwer: Sie erfährt Rassismus, Ausgrenzung, Isolation. «Aufwachsen in der Schweiz in den 70ern und 80ern ist ein Albtraum. Für ein adoptiertes Mädchen aus Korea ist es schwierig», schreibt sie. Halt findet sie einzig im Sport. Kunstturnen wird zu ihrer Kraftquelle.

Und dann ist da noch ihre Vergangenheit. Ihre Mutter lässt immer wieder durchblicken, dass Rebekka vor der Adoption «etwas Schlimmes» widerfahren sei. Dieses Unausgesprochene begleitete Allemann durch Kindheit und Jugend wie ein dunkler Schatten.

«Ich weiss nicht genau, was damals passiert ist»

Erst viele Jahre später liest sie in den Akten der Vormundschaftsbehörde, dass der Verdacht bestand, dass sie in der ersten Familie, zu der sie nach ihrer Ankunft gebracht wurde, sexuell missbraucht worden sei. Dort steht auch, dass sie aufgehört habe zu essen, sich eingenässt habe, nicht mehr sprach. Amtlich überprüft wurde nie etwas. Danach kommt sie in eine stationäre Kinderpsychiatrie.

«Ich weiss nicht genau, was damals passiert ist», sagt Allemann heute. Details kenne niemand. «Vielleicht war dies das Schlimmste – es nicht zu wissen und doch immer wieder daran erinnert zu werden.»

Schliesslich schafft es Allemann, auszubrechen. Mit 17 verlässt sie die Adoptiveltern, beginnt eine Ausbildung im Reisebüro – und bricht sie ab. Dann hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, findet schliesslich den Weg in die IT, wird Projektleiterin. Sie heiratet, wird Mutter von zwei Töchtern.

Was bleibt, ist der Wunsch, ihre leibliche Familie kennenzulernen. «Ich wollte immer meine Schwester finden», sagt sie. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie als Kind oft den Mond betrachtete und sich vorstellte, dass irgendwo auf der Welt auch die Schwester gerade zum Himmel blickt. «Ich malte mir aus, wie schön es wäre, jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich spielen kann», sagt sie. «Ich war ein sehr einsames Kind.»

Wiedersehen mit der leiblichen Familie

2004 kehrt Rebekka Allemann zum ersten Mal seit ihrer Adoption zurück nach Korea. Sie macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Familie – und findet sie tatsächlich. Ihre Mutter – Allemann ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten – und ein Bruder, der nach ihr auf die Welt gekommen ist, tauchen zum Gespräch mit der Übersetzerin auf. Alle weinen. Ein surrealer Moment, sagt Allemann.

Über die Jahre reist sie immer wieder nach Korea, trifft auch ihre Schwester sowie den Vater wieder und versucht, eine Verbindung zu ihrer Familie herzustellen. Doch der Kontakt bleibt sporadisch, die emotionale Distanz ist stets spürbar. «Manchmal habe ich mich gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte sie nie gefunden», sagt sie heute. «Es war eine Illusion, die zerplatzt ist. Man stellt sich alles so schön vor – und dann merkt man: Eigentlich hat mich niemand vermisst.»

Zu wissen, woher sie stammt, gab ihr Ruhe

Trotz dieser Enttäuschung markiert das Wiedersehen für Allemann einen Wendepunkt. Jahre zuvor habe sie sich immer wieder rastlos gefühlt, erzählt sie – zu unstet, um selbst eine Familie zu gründen: «Ich war immer auf der Suche.» Erst mit dem Wissen um ihre Herkunft sei etwas in ihr zur Ruhe gekommen. «Ich weiss nicht, ob ich Kinder gehabt hätte, wenn ich meine Familie nicht gefunden hätte. Aber als ich wusste, woher ich komme, hat sich ein Kreis geschlossen.»

Wut auf ihre leiblichen Eltern empfand sie nie. «Ich habe mir immer eingeredet, dass sie mich nicht weggegeben hätten, wenn es nicht absolut notwendig gewesen wäre.»

Bundesrat: Stopp für Auslands-Adoptionen

Heute sagt sie: «Ich musste mich meiner Vergangenheit stellen.» Also kündigte sie ihren Job, begann zu schreiben. «Ich musste über 50 werden, um aussprechen zu können, was die Adoption mit mir gemacht hat.»

Der Bundesrat kündigte im Januar an, internationale Adoptionen verbieten zu wollen. Eine Untersuchung hatte schwere systematische Versäumnisse bestätigt. Zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren wurden Tausende Kinder unter fragwürdigen bis illegalen Umständen in die Schweiz gebracht. In manchen Fällen durch Kinderhandel, in anderen fehlte die Zustimmung der leiblichen Eltern, häufig wurden Dokumente gefälscht.

Allemann stellt klar: «Meine Adoption war rechtlich korrekt. Und trotzdem habe ich mit so vielem zu kämpfen.»

Dass Auslandsadoptionen in der Schweiz künftig verboten werden sollen, begrüsst sie. Rebekka Allemann: «Dass wir überhaupt an diesem Punkt sind, zeigt, wie viel schieflief. Und wie lange weggeschaut wurde.»

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