Aurélie M.* (67) erinnert sich noch genau an jenen Moment, in dem ihr Familienglück für immer zerbrach. Daran, wie sie bei ihren Schwiegereltern am Küchentisch sass, plauderte. An den Knall draussen, ganz in der Nähe. Ans Gesicht ihres Schwiegervaters, als er sagte: «Luca*! Luca liegt auf der Strasse und regt sich nicht mehr.»
Am 15. März 1983 überrollte ein Raser in einem Dorf im Unterwallis ihr einziges Kind (†8). Der aufgeweckte Bub mit den blonden Haaren und hellblauen Augen war plötzlich weg, unwiderruflich. Seine Mutter, Aurélie M., möchte BLICK anonym zur aktuellen Raser-Thematik ihre Leidensgeschichte erzählen. «Unser Luca hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Der Raser hat es ihm einfach genommen», sagt sie.
Es passiert zur Mittagszeit. Luca verlässt das Haus seiner Grosseltern, läuft nach Hause. Seine Mutter will später nachkommen. Das Kind kehrt um, will doch zurück. Warum, das weiss Aurélie M. bis heute nicht. Als Luca die Strasse überquert, nähert sich ein Autofahrer. Er brettert mit knapp 100 km/h auf das Kind zu – in einer 50er-Zone. Bremsen ist unmöglich. Es kracht.
Ein weiteres Kind nicht möglich
Luca wird durch die Luft geschleudert, prallt mit dem Nacken auf dem Randstein auf. Genickbruch. Der Bub ist sofort tot. «Von einem Moment auf den anderen wurde ich in ein tiefes Loch gerissen. Plötzlich war ich keine Mutter mehr», erzählt M.
Die Zukunft habe sie damals nicht sehen können – und auch nicht sehen wollen. «Unsere Familie lag in Scherben», sagt sie. Lange Zeit wird im Haushalt M. geschwiegen. Aurélie und ihr Mann Pierre* (66) verstecken die Trauer, den Schmerz voreinander. Das kostet Kraft. «Über Luca konnten wir damals nicht reden. Aus Angst, dem anderen mit unseren Worten noch mehr wehzutun.»
Der Wunsch nach einem weiteren Kind blieb für das Paar unerfüllt. Aurélie konnte aus medizinischen Gründen kein Baby mehr auf die Welt bringen. «Die einzige Schwangerschaft, die geklappt hat, war Luca», sagt sie traurig.
«Ich konnte ihn nicht hassen»
Dem Raser begegnete die Mutter nie mehr. Pierre ging alleine zum Gerichtsprozess. «Ich hätte es nicht ertragen, diesen Mann zu sehen. Nicht aus Abscheu – hassen konnte ich ihn nicht. Ich wusste, er litt genauso stark wie wir», sagt sie. Der Unfallfahrer, ein junger Spanier, kommt mit einer Busse davon. Später wird er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
Jahre vergehen. Irgendwann passiert etwas, das Aurélie M. gar nicht mehr für möglich gehalten hätte: Der Schmerz lässt nach. «Wir lernten, mit dem Schicksalsschlag zu leben», sagt sie. Auch wenn sie nun kinderlos alt werden müsse.
Nur die Angst vor dem Autofahren könne sie nicht überwinden. «Wenn Pierre mit dem Auto unterwegs ist, habe ich immerzu den Gedanken: Kommt er zurück oder nicht? Das tut weh.»
«Rasen ist eine Entscheidung»
Seit 2013 droht Rasern in der Schweiz eine Gefängnisstrafe von mindestens einem, höchstens vier Jahren. Nun soll das Gesetz aufgeweicht werden. Der Nationalrat argumentiert, dass durch die starren Grenzwerte «fahrlässige» Raser genauso hart bestraft werden wie «vorsätzliche».
Damit ist Aurélie M. nicht einverstanden. Der kleine Luca wurde zwar nicht mutwillig, aber aus Übermut getötet. Unfälle, sagt seine Mutter, könnten passieren. Rasen hingegen sei eine Entscheidung. Der Raser-Artikel kommt schliesslich nur zum Zug, wenn eine wirklich hohe Geschwindigkeitsüberschreitung vorliegt: In der 30er-Zone muss ein Fahrer mit 70, in der 50er- mit 100 und in der 80er-Zone mit 140 km/h unterwegs sein.
Aurélie M.: «Ich bin für die harten Strafen, mit denen Raser in der Schweiz heute rechnen müssen. Denn diese Menschen wissen häufig nicht, was sie Familien damit antun.»
* Name geändert