Die Nachricht aus Gelsenkirchen (D) schreckt vergangene Woche nicht nur die deutsche Öffentlichkeit auf. Zwischen Juni und Anfang September kommen im Sankt Marien-Hospital Buer drei Kinder mit Deformationen an einer Hand zur Welt (BLICK berichtete). «Beim normalen Unterarm waren Handteller und Finger nur rudimentär angelegt», erklärt der Kliniksprecher Wolfgang Heinberg.
Sofort schrillen die Alarmglocken. Die Medien ziehen Parallelen zu Fällen in Frankreich, wo sich insbesondere im Verwaltungsbezirk Ain, nahe der Genfer Grenzregion, in den vergangenen zehn Jahren Handfehlbildungen häuften. Stecken Umweltgifte, möglicherweise Pestizide hinter dem Phänomen? Und könnten auch Schweizer Babys betroffen sein?
Der kleine Finn* (9 Monate) aus dem Kanton Zürich ist eines von den 200 bis 300 Kindern jährlich in der Schweiz, die mit einer sogenannten Dysmelie zur Welt kommen. Die linke Hand des Buben wurde nicht vollständig angelegt, die Finger sind nur im Ansatz ausgebildet. Seine Eltern wissen bis heute nicht, woher die Deformation kommt. Stören tut sie es kaum. «Finn interessiert das gar nicht, er benutzt die Hand genauso. Wir merken es im Alltag auch gar nicht mehr. Finn ist ein ganz normales Kind», sagt die Mutter zu BLICK.
Dass die Ursache von Fehlbildungen nur schwer zu ermitteln ist, bestätigt auch Handchirurg Alexandre Kämpfen (41).«Bei 60 bis 80 Prozent der Handfehlbildungen bleibt die Ursache ein Rätsel», sagt der Kaderarzt am Universitäts-Kinderspital beider Basel. «Sie entstehen zwischen der vierten und siebten Schwangerschaftswoche. Das Programm, das die Extremität entwickelt, hat dann nicht funktioniert. Bei jedem fünften bis zehnten Kind stecken genetische Ursachen dahinter.»
Fehlbildungen durch Gifte in der Schweiz fast unmöglich
Eine Sorge kann der Mediziner Schweizer Eltern nehmen: Fehlbildungen bei Neugeborenen durch Gifte seien in der Schweiz so gut wie unmöglich. Bei zehn bis 20 Prozent der Fälle weltweit seien vor allem Alkohol- und Medikamentenkonsum oder Umweltgifte schuld an der Fehlbildung bei Babys. Dies aber komme vorwiegend in Entwicklungsländern vor. Zudem würden Umweltgifte oder Radioaktivität eher zu Tumoren und Krebserkrankungen führen als zu Fehlbildungen.
«In der Schweiz ist das Trinkwasser sauber, die Hygiene hoch», sagt Alexandre Kämpfen. Und: «Die Zahl der Fehlbildungen hat in den vergangenen Jahren nicht zugenommen. Sie ist konstant. Rund jedes 4000ste Baby kommt bei uns mit einer schweren Fehlbildung zur Welt.» Dank der vorgeburtlichen Untersuchung würden Deformationen schon früh erkannt. «Eltern entscheiden sich dann leider häufig für eine Abtreibung», so der Mediziner.
Experten warnen vor voreiligen Schlüssen
Warum in Gelsenkirchen gleich drei Babys ohne Hand und das in nur wenigen Wochen zur Welt kamen, erklärt Alexandre Kämpfen mit dem Gesetz der Serie: «Wir können beobachten, dass Geburten mit Fehlbildungen manchmal wellenweise auftreten.» Dieses Phänomen könnte durchaus auch auf Gelsenkirchen zutreffen. Experten der Mainzer Uniklinik warnen vor voreiligen Schlüssen. Es müsse untersucht werden, ob es sich tatsächlich um eine Häufung oder nur um zufällige Ereignisse handle, sagte der Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin, Fred Zepp, am Mittwoch in Mainz.
Seit sieben Jahren begleitet Alexandre Kämpfen in seiner Sprechstunde Eltern von Kindern, die ohne Hand geboren wurden. Betreuung und Behandlung der betroffenen Kinder seien in der Schweiz exzellent, ein Leben auch ohne Hand qualitativ gut möglich, so Kämpfen. Das kann der kleine Finn nur bestätigen.
*Name geändert