BLICK: Tiefe Steuern sind seit Jahren eine der wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren der Schweiz. Warum hat das Stimmvolk die USR dennoch wuchtig verworfen?
Tobias Straumann: Es ist eine typische Abstimmung, denn Steuer- und Sozialreformen haben es extrem schwierig beim Stimmvolk. Zudem erinnert mich das Nein zur Unternehmenssteuerreform stark an 2004. In den Wahlen 2003 hat die Rechte gewonnen und Christoph Blocher kam in den Bundesrat. Die politische Elite dachte, sie habe nun ein Mandat für eine rechte Politik. Es folgten die Schlappen bei AHV-Reform und Steuerpaket. Das Gleiche passierte nun am Sonntag.
Die rechte Mehrheit hat also nach dem Wahlsieg 2015 überbordet.
Ja. In einer direkten Demokratie ist ein Wahlsieg nie ein Mandat für ein anderes Regierungsprogramm. Das Volk wollte eine gewisse Kurskorrektur, mehr nicht.
Warum hat das Stimmvolk der versammelten bürgerlichen Elite nicht vertraut? Sogar SP-Finanzdirektoren waren für die Reform.
Die direkte Demokratie hat das Misstrauen quasi im Blut. Es ist institutionalisiert. Und das ist gut so. Die Elite hat immer die Tendenz, wichtige Aspekte zu übersehen. So war es beim EWR und bei der Masseneinwanderungs-Initiative. Wenn die Vorteile nicht ganz klar sind, sagt man eher Nein. Neben den 30 Prozent Linken ist am Sonntag auch ein Teil der SVP-Basis ausgeschert. Die Vorlage kam für viele zu einseitig daher.
Es ist offensichtlich ein Aufstand des Mittelstandes. Geht es diesem denn so schlecht?
Dem Mittelstand geht es nicht schlecht. Aber Folgendes hat sich kumuliert: Die Staatsangestellten fürchteten Sparmassnahmen, und der gewerbliche Mittelstand hat Mühe, die Anliegen der Grossunternehmen zu vertreten.
Der Mittelstand fühlt sich schlecht behandelt. Er hat das Gefühl, man gebe den Reichen mehr.
Wir haben eigentlich eine gute Umverteilung. Aber seit der Finanzkrise ist das Vertrauen in die Wirtschaftselite stark erschüttert, weil man erfahren hat, dass hochbezahlte Topmanager völlig überfordert waren.
War die Elite bei der Unternehmenssteuerreform zu gierig?
Nein. Aber sie scheint vergessen zu haben, dass solche Vorlagen fast nie durchkommen. Ausnahme war die Revision der Arbeitslosenversicherung. Die war austariert, hatte ein Solidaritätsprozent für die obersten Einkommen. Es war eine fast perfekte Vorlage – und sie wurde trotzdem nur mit 54 Prozent angenommen. Ein solch ausgleichendes Element hat vielen bei der Steuerreform gefehlt.
Wie können Führungspersonen und Institutionen Vertrauen aufbauen?
Es gab in der Schweiz schon immer ein Grundmisstrauen gegenüber der Wirtschaftselite. Diese muss deshalb immer wieder unter Beweis stellen, dass sie das Allgemeininteresse über das Sonderinteresse stellt. In letzter Zeit hat die Wirtschaftselite aber viel mehr Mühe, die Bevölkerung zu überzeugen.
Hat sie nichts gelernt?
Ich weiss es nicht. Ich beobachte nur, dass der Graben besonders gross ist.
Mit den hohen Chef-Löhnen bleibt das Misstrauen?
Ja. Bei so hohen Bezügen ist es schwierig, die Leute davon zu überzeugen, man sitze im gleichen Boot. Aber es sind nicht nur die Löhne, die Misstrauen wecken. Viele sind auch der Meinung, dass die internationale Regulierung nur den Grossfirmen nütze. Die Personenfreizügigkeit ist ein gutes Beispiel. Für die Arbeitgeber ist sie von grossem Vorteil, aber sie schwächt natürlich die Position der Arbeitnehmer, weil sie nun viel einfacher auszutauschen sind.
Sind die hohen Löhne wirtschaftlich notwendig?
Es gibt einen Druck des internationalen Marktes, und die Schweizer Grossunternehmen können sich dem nicht entziehen. Aber ich glaube, es gäbe schon Spielraum nach unten, wenn man die Rekrutierung des Führungspersonals verändern würde.
Setzt man zu oft auf Ausländer?
Ich sehe in manchen Fällen keine langfristig angelegte Nachfolgepolitik, sondern eine Art Söldnerwesen wie bei den Fussballvereinen. Man wirbt mal einen von einer anderen Topfirma ab, der seine eigenen Leute mitbringt. Dann muss er wieder gehen, und mit ihm verschwindet die ganze Führungsriege. Danach muss man wieder von vorne beginnen. Das ist extrem teuer. Personen, die man im Unternehmen selbst aufbaut, müsste man nicht diese hohen Löhne zahlen, und sie wären besser in der Schweizer Politik verankert.
Diese wären für die Stimmbürger auch greifbarer im Sinne eines Unternehmertums.
Ja, das wäre vertrauensbildend. Aber von den Grossfirmen hat sich fast niemand im Abstimmungskampf exponiert. Man kennt die Verwaltungsräte und CEOs auch kaum mehr. Sie sind fast unsichtbar geworden.
Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann (50) lehrt an den Universitäten Zürich und Basel. Sein neustes Buch verfasste er zum Firmenjubiläum des Beratungsunternhemen Ernst & Young: «Vertrauen als Mehrwert – 100 Jahre EY Schweiz».
Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann (50) lehrt an den Universitäten Zürich und Basel. Sein neustes Buch verfasste er zum Firmenjubiläum des Beratungsunternhemen Ernst & Young: «Vertrauen als Mehrwert – 100 Jahre EY Schweiz».