Mike Perret sitzt im Dunkeln und füllt RAV-Formulare aus. Er lächelt tapfer. Die Bürokratie hat wenig Erbarmen mit jemandem, der in den vergangenen zwei Jahren unzählige Kurzzeitjobs in der Event- und Gastrobranche hatte. Jedes Engagement, ob Cateringeinsatz oder Gerüstbau, muss sorgfältig gelistet werden. Am Ende dürfte dennoch nur ein überschaubares Arbeitslosengeld herauskommen. Zu gering waren die eingezahlten Beiträge. «Ich stehe vor existenziellen Problemen», sagt der 29-Jährige.
Dabei sah die Welt vor zwei Wochen noch anders aus. Perret arbeitete in Interlaken BE an der Rezeption des Hostels Bed & Bar No. 8. Er war dort temporär angestellt, wurde als Springer eingesetzt. Im März hatte er eine Festanstellung in Aussicht. «Ich kam wirklich motiviert zur Arbeit.»
Dann kam Corona. «Knall auf Fall wurden alle Buchungen storniert», erzählt Perret. Zuerst blieben die Gruppen weg, vor allem die Chinesen. Dann die Koreaner, die Amerikaner, die Deutschen. Interlaken. Der stete Tourismusmotor hat in den Leerlauf geschaltet. Längst haben auch die grossen Häuser Kurzarbeit beantragt.
Temporäre zuerst heimgeschickt
«Noch nie in meinem Leben habe ich so eine Misere erlebt», sagt Remo Ritschard, CEO des Hostels. Entschuldigend blickt der Chef zu seinem ehemaligen Mitarbeiter. Er habe nicht anders gekonnt, als die Temporären zuerst heimzuschicken. In den kommenden Monaten muss er nun entscheiden, wie es mit seinen vier Festangestellten weitergehen soll.
Drei Jahre alt ist sein Betrieb, bisher lief dieser ordentlich. Nun ist das Hostel menschenleer. Ritschard prüft das Reservationssystem, zwölf Gäste hat er noch, Platz gäbe es für 95. Die Einkünfte bleiben aus, die Miete läuft derweil weiter. Noch drei solche Monate, dann sei Schluss. Ritschard: «Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.»
Interlaken ist die Regel in der Schweizer Gastronomie und Hotellerie. Dies zeigen zwei Umfragen, die der Arbeitgeberverband Gastrosuisse unter seinen rund 20'000 Mitgliedern durchgeführt hat. Die Zahlen liegen SonntagsBlick vor. Sie zeigen eine Branche im Kampf ums Überleben. Eine Branche, die übers ganze Land verteilt 260'000 Menschen beschäftigt.
In der ersten Umfrage gaben die Wirte und Hoteliers Auskunft über die Auswirkungen des Veranstaltungsverbots, das der Bundesrat Ende Februar verfügte: Anlässe mit mehr als 1000 Menschen wurden untersagt, Grossereignisse wie der Autosalon in Genf, der Engadiner Skimarathon oder die Fasnacht in Basel mussten abgeblasen werden.
Basel-Stadt und Genf besonders betroffen
Die Konsequenzen: Innerhalb einer Woche meldeten drei Viertel der befragten Betriebe Umsatzeinbussen. Allein bis zum 5. März brach der Umsatz im Gastgewerbe im Schnitt um 33 Prozent ein. Besonders betroffen waren die Kantone Basel-Stadt und Genf, deren Grossveranstaltungen ins Wasser fielen.
Eine Woche später war der Einbruch sogar noch schmerzhafter, wie aus der zweiten Umfrage hervorgeht. Diese lief bis vorgestern Freitag. Sie macht deutlich, dass nun auch die abgeschiedenste Dorfbeiz Abstriche machen muss.
So stiegen die Umsatzeinbussen weiter an und erreichten bereits 40 Prozent. In Bezug auf die gesamte Branche schätzt Gastrosuisse den Einbruch gar auf 380 Millionen Franken ein – und dies nach nur zwei Wochen Corona-Krise.
Als Folge dieses dramatischen Rückgangs hat rund ein Drittel der Betriebe ein Gesuch für Kurzarbeit eingereicht; ebenso viele haben sich den Unternehmerlohn gekürzt. Doch die Wirte mussten sich – wie Remo Ritschard in Interlaken – auch von ihren Mitarbeitern trennen: Jeder sechste Betrieb hat Personal entlassen.
Anzahl Konkurse angestiegen
Sprunghaft angestiegen ist zudem die Anzahl Betriebe, die Konkurs angemeldet haben: In der vergangenen Woche war es bereits jedes zwanzigste Restaurant oder Hotel.
Dabei dürfte es nicht bleiben. Die Situation vieler Beizer ist prekär, wie die Umfrage weiter zeigt: Fast die Hälfte (47 Prozent) der Wirte rechnet damit, dass sie ihren Betrieb schliessen müssen, sollten die jetzigen Verhältnisse länger andauern. Diese Befürchtungen kann auch Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer nicht ausräumen.
Eine kleinere Anzahl Betriebe steht noch schlechter da: Jeder achte ist laut Umfrage kurz davor, seine Türen für immer zu schliessen. Die Lage wird sich weiter zuspitzen, nachdem der Bundesrat am Freitag neue, verschärfte Massnahmen bekannt gegeben hat. Nun dürfen sich in einem Café oder Restaurant höchstens 50 Personen gleichzeitig aufhalten.
Das grosse Darben der Wirte hat erst begonnen.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
Die erste Gastrosuisse-Umfrage bezieht sich auf den Zeitraum vom 28. Februar bis 5. März und damit auf die erste Woche, nachdem der Bundesrat das Veranstaltungsverbot von über 1000 Personen beschlossen hatte. Teilgenommen haben 2640 Betriebe. Die zweite Umfrage bezieht sich auf den Zeitraum vom 6. bis 12. März; die Anzahl Teilnehmer betrug 1999.
Die erste Gastrosuisse-Umfrage bezieht sich auf den Zeitraum vom 28. Februar bis 5. März und damit auf die erste Woche, nachdem der Bundesrat das Veranstaltungsverbot von über 1000 Personen beschlossen hatte. Teilgenommen haben 2640 Betriebe. Die zweite Umfrage bezieht sich auf den Zeitraum vom 6. bis 12. März; die Anzahl Teilnehmer betrug 1999.