Wer bekommt wie viel Platz?
Was zehn Millionen Menschen in der Schweiz bedeuten

Bald könnten hierzulande zehn Millionen Menschen leben. Da stellen sich Fragen für uns alle: Was für eine Schweiz wollen wir? Und wie wollen wir darin leben?
Publiziert: 04.10.2023 um 21:04 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 09:30 Uhr
Gemäss Prognosen könnte die Schweiz im Jahr 2040 schon 10 Millionen Einwohner zählen.
Foto: Shutterstock
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Raphael Brunner, Peter Johannes Meier und Sarah Serafini
Beobachter

Die Empörung war immens. Die Zürcher Oberländer Gemeinde Seegräben hatte im Februar einem langjährigen Mieter die Wohnung gekündigt. Sie müsse Platz für Geflüchtete schaffen, verteidigte sich die Gemeinde. Schweizer rauswerfen, um Zuwanderer einzuquartieren? Das ging zu weit.

Freiheitstrychler marschierten durch das Dorf. Doch dann wurde bekannt, dass der Schweizer allein in einer günstigen 5,5-Zimmer-Wohnung lebte. Die Wogen gingen erneut hoch, diesmal in eine andere Richtung. Eine billige, viel zu grosse Gemeindewohnung für einen Single-Haushalt? Solche Wohnungen sind knapp, werden von Familien verzweifelt gesucht.

Wer bekommt wie viel Platz wofür?

Die Schweiz wächst rasant, wir müssen zusammenrücken. Das schürt Neiddebatten und provoziert berechtigte Fragen zum Wachstum mit Nebenwirkungen. Seegräben könnte überall in der Schweiz sein. Und doch ist es kein Zufall, entbrannte gerade hier, am idyllischen Pfäffikersee, die Diskussion besonders heftig. Das Zürcher Oberland ist in den letzten Jahrzehnten zur Boom-Region geworden, ein Pendlerparadies zwischen grünen Hügeln. Doch längst ist das Wohnen auch hier teurer geworden, gibt es in der S-Bahn fast nur noch Stehplätze, Autoschlangen quälen sich durch verstopfte Dorfzentren, und an sonnigen Wochenenden bleibt um Pfäffiker- und Greifensee kaum ein Stück Spazierweg frei.

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«Dichtestress» war vor wenigen Jahren ein verpolitisiertes Wort, ein Kampfbegriff gegen Personenfreizügigkeit mit der EU oder gegen Ausländer überhaupt. Heute gehört «Dichtestress» zum Alltagsvokabular, ziemlich unabhängig von politischer Gesinnung, Herkunft und Alter. Die höhere Dichte ist Realität und der damit einhergehende Stress zum treuen Begleiter geworden.

Unter der Woche, weil alle in die Stadt zur Arbeit wollen. Am Wochenende, weil die gleichen Leute an vermeintlich idyllischen Orten aufeinandertreffen, um sich zu erholen. Irgendwie sind wir überall. Wir, das sind seit Juni neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz. Und wir werden immer mehr. 2040 wird gemäss Bundesprognosen die 10-Millionen-Grenze geknackt werden.

Uster als Beispiel für eine wachsende Schweiz

Stefan Feldmann hat sich in den letzten Jahren oft mit solchen Zahlen beschäftigt. Der Sozialdemokrat ist Bauvorstand von Uster, Nachbargemeinde von Seegräben und grösste Stadt im Zürcher Oberland. An diesem Morgen, Anfang Herbst, steht er am Ustermer Bahnhof. Den Kinnbart akkurat gestutzt, das Sakko offen, die Laune bestens. Hier ein Wink, da ein «Hoi», in der selbst ernannten «Wohnstadt am Wasser» kennt man sich noch.

Doch wenn die Busse im Fünfminutentakt eintreffen, verwandelt sich das Areal in einen geschäftigen Ameisenhaufen. «Für die Zukunft sind die zehn Haltekanten zu wenig», sagt Feldmann und deutet auf den Passantenstrom, der in Richtung Perrons hetzt. «Wir werden mehr Linien und einen engeren Takt anbieten müssen.»

Uster hat bereits vor sieben Jahren damit begonnen, was die Schweiz erst jetzt so richtig als eine der grössten Herausforderungen erkennt: sich bereitmachen für deutlich mehr Menschen. Und zwar so, dass keine grünen Wiesen, keine wertvollen Felder überbaut werden und keine neuen Strassen notwendig sind.

Raum zwischen den Häusern und gute Anbindung an den ÖV

35’000 Einwohner hat die Stadt am Aabach heute. In gut zehn Jahren soll sie Platz für 42’000 bieten, ein Fünftel mehr. Das sind Vorgaben des Kantons.

Die Schweiz soll dort wachsen, wo es noch Raum gibt zwischen den Häusern, wo es im Ortsbild noch ein Stockwerk mehr verträgt, es bereits Läden und Arbeitsplätze gibt und eine gute Anbindung an den ÖV.

Das sind vor allem die Gebiete rund um die grossen Städte: Morges bei Lausanne zum Beispiel, Köniz bei Bern, Kriens LU, Pratteln BS, das Zürcher Glatt- und das Limmattal. Orte wie Burgdorf, Baden, Liestal, Nyon, Bulle oder eben Uster, die selbst ein regionales Zentrum sind und zugleich nahe bei den grossen Städten liegen.

Kein Land in Europa wächst so stark wie die Schweiz. Stecken wir in einer Wachstumsfalle? «In modernen Wirtschaftssystemen gibt es einen Wachstumszwang», sagt der Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger. Er warnt vor dem ungebremsten Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in der Schweiz. Man müsse sich überlegen, ob das Land für seine Bewohnerinnen und Bewohner attraktiv bleibt, wenn überall versucht wird, noch mehr ausländische Firmen anzulocken, die wiederum Arbeitskräfte aus dem Ausland nach sich ziehen.

Wenig attraktiv ist zum Beispiel, was zurzeit auf dem Wohnungsmarkt läuft. In grossen Städten war das Angebot zwar meistens schon knapp. Doch jetzt werden Preise realisiert, die sich auch Mittelständler nicht mehr leisten können. Trotzdem bleiben die Wohnungen nicht leer. Gutverdienende und Reiche ziehen zu, Ärmere und der Mittelstand müssen attraktive Quartiere oder die Heimatstadt gleich ganz verlassen.

Mehr Dichte, mehr Reibung

Wo es dichter wird, nimmt auch die Reibung zu. Manche Wohnungssuchende echauffieren sich über Grossverdiener, die sich günstig häuslich eingerichtet haben. Der Zürcher Chefarzt zum Beispiel, der in einer Genossenschaft im beliebten Seefeld-Quartier wohnt, wie der «Blick» kürzlich berichtete. Für Irritation und Ärger sorgen mittlerweile auch klassische Volksfeste, die immer öfter zu gigantischen Massenveranstaltungen ausarten. Die jüngsten Beispiele dafür: die massiven Staus und Wartezeiten am Flughafenfest in Zürich oder die Zugangsbeschränkungen im August an der Badenfahrt im Aargau.

Die wachsende Bevölkerung arbeitet eben nicht nur, sie hat auch Freizeit und gründet Familien. Das verlangt nach mehr Infrastrukturen, mehr Verkehrsmitteln, mehr Schulen, mehr von allem. Es kommen immer mehr – und doch sind wir zu wenige. «Fachkräftemangel» heisst das Mantra. Vor kurzem noch ängstigten sich Schweizerinnen und Schweizer vor Arbeitslosigkeit. Doch jetzt wird überall zu wenig gekellnert, in Spitälern fehlt es an Pflegern und Ärztinnen, IT-Firmen nehmen fast jeden, und Handwerksbetriebe verzweifeln, weil sie keine geeigneten Mitarbeitenden finden.

Woran liegt das? An der Überalterung unserer Gesellschaft? Gehen mehr Babyboomer in Pension, als Arbeitskräfte zuwandern? Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat kürzlich vorgerechnet, dass es bis 2040 rund 431’000 zusätzliche Arbeitskräfte braucht, um die anstehenden Pensionierungen zu kompensieren: Das wären im Schnitt 24’000 Fachkräfte pro Jahr.

Doch die Schweiz wächst jährlich um rund 70’000 Menschen. Wachsen wir also über die Pensionäre hinaus? Oder kommen einfach die Falschen, wie die SVP moniert – und damit vor allem Geflüchtete meint?

Wie schafft man Platz für eine Million mehr?

Mit ihrer Nachhaltigkeitsinitiative will die Schweizerische Volkspartei die Bevölkerung auf maximal zehn Millionen Einwohner bis ins Jahr 2050 begrenzen. Wie das geschehen soll, lässt sie offen und spielt den Ball dem Bundesrat zu. Der soll nach dem Erreichen von 9,5 Millionen Menschen Verhandlungen zu internationalen Übereinkommen – also der Personenfreizügigkeit – «anstreben». Erst wenn die zehn Millionen überschritten werden, «soll» die Regierung weitere Massnahmen treffen. Welche, ist abermals unklar.

Die Schweiz muss sich also auf zehn Millionen Einwohner vorbereiten, selbst wenn die Initiative angenommen werden sollte. Wie aber schafft man Platz für zusätzlich eine Million Menschen?

Im Süden des Bahnhofs Uster ragen 40 Meter hohe Wohntürme in den Himmel. 200 Meter daneben blühen rosa Geranien auf dem Balkon eines Giebeldachhauses, das nicht höher ist als ein Apfelbaum. Vor einer Bäckerei-Filiale sitzen Senioren an Tischchen, daneben parkiert eine Frau ihr Auto direkt vor der Postfiliale.

«Uster muss nach innen wachsen», sagt Bauvorstand Feldmann. Das heisst, mehr Menschen sollen künftig auf der gleichen Fläche leben. Für Einfamilienhäuser beim Bahnhof hat es dann keinen Platz mehr. Auch nicht für oberirdische Parkplätze neben den Läden. Feldmann, in Uster daheim seit Geburt, sieht keine Alternative. Er erzählt von seinem Vater, einem Schriftsetzer, der von der Aussenwacht Nossikon aus jeden Samstag den Wocheneinkauf für die fünfköpfige Familie in Uster besorgte, mit dem Velo. Heute ist Uster halb Dorf, halb Stadt, und manchmal keines von beidem. «Mehr Menschen sind eine Herausforderung, sie schaffen aber auch neue Möglichkeiten.»

Zur 10-Minuten-Stadt verdichten

Innere Verdichtung heisst das Zauberwort der Schweizer Siedlungsplanung. Neu ist das nicht. Schon vor zehn Jahren verkündete der Chefredaktor der Architekturzeitung «Hochparterre», mit radikaler Verdichtung sei es theoretisch möglich, zehn Millionen Menschen allein im Grossraum Zürich anzusiedeln. Sibylle Wälty, Forschungsgruppenleiterin am Wohnforum der ETH Zürich, sorgte kürzlich für Schlagzeilen, als sie gegenüber dem Onlinemagazin «Tsüri» sagte: «Mit Verdichtung haben in Zürich locker zusätzlich 300’000 Menschen Platz.»

Das Rezept der Forscherin für die 10-Millionen-Schweiz sind die 10-Minuten-Nachbarschaften. Vieles im Alltag ist in zehn Minuten zu Fuss erreichbar: Wohnen, Arbeit, Ämter, Gesundheitsversorgung, Einkauf, Ausgang, aber auch Parks, Natur zum Ausspannen. Die kurzen Wege machen Auto und Bahn nicht überflüssig, aber sie werden deutlich weniger benötigt. «In der 10-Minuten-Nachbarschaft werden nur 15 Prozent aller Etappen mit dem Auto zurückgelegt, in der Peripherie 50 Prozent», sagt Wälty.

Die 10-Minuten-Nachbarschaft braucht Dichte. In einem Umkreis von 500 Metern müssen mindestens 10’000 Menschen wohnen und 5000 arbeiten, damit Restaurants und ein vielfältiges Versorgungsangebot rentieren. Das hat Wälty mit Untersuchungen belegt. Solche Nachbarschaften gibt es in der Schweiz bereits. Um den Idaplatz in Zürich mit seinen Blockrandbauten oder um die Rue Dancet in Genf. Sie sind attraktiv und beliebt.

Wälty zielt mit ihren Ideen auf die grossen und kleinen Städte, die viele Arbeitsplätze, aber im Verhältnis dazu wenig Wohnungen anbieten und so für immer mehr Pendlerverkehr sorgen. «10-Minuten-Nachbarschaften sind aber auch an Orten wie Uster möglich, etwa im Gebiet um den Bahnhof», sagt sie.

Ruedi Gysi wohnt beim Bahnhof Uster. Auf der Dachterrasse seiner Wohnung sieht der pensionierte Stadtpolizist direkt an die Baukräne heran, die sich auf dem Nachbargrundstück auftürmen. Da soll der Gerichtsplatz entstehen, der neue zentrale Platz in Uster, flankiert von einem Hochhaus, 47 Meter hoch, nur wenig kleiner als der Kirchturm.

«Was für Leute ziehen hierher? Wie werden sie unsere Stadt verändern?», fragt Gysi. Er hat die Wandlung zur Pendlerstadt in den Neunziger- und den Nullerjahren miterlebt, hat Hochhäuser wachsen und Dorfvereine verschwinden sehen. Einst für die SVP im Stadtparlament, ist er heute nicht mehr aktiv in der Partei. Wo sonst, wenn nicht aus dem Ausland, hole das Gewerbe die nötigen Fachkräfte? Sein Auto hat er verkauft, eine 10-Minuten-Nachbarschaft mit kleinen Läden, Cafés und Gewerbe, zu Fuss erreichbar, gefiele ihm eigentlich gut.

Wenn er aber auf die neuen Alterswohnungen am Stadtpark blickt, superzentral, 14 Stockwerke, dann denkt er an ein Gefängnis. «Ist das die Zukunft? Ich glaube nicht, dass die meisten Leute so leben wollen, auch die Jungen nicht.»

Tatsächlich ist die Schweiz trotz allem Lob der Dichte in den letzten Jahren in die Breite gewachsen.

Die Planung ist das eine

Am stärksten wird die Bevölkerung in den nächsten Jahren in den ländlich geprägten Regionen im Süden und Westen des Kantons Freiburg zunehmen, im Greyerzerland und im Raum Estavayer-le-Lac. Auch die Räume um Olten, Aarau und Sion sind gemäss Prognosen Wachstumsgebiete. Das Leben in kleinen Gemeinschaften, nahe bei der Natur und doch nicht allzu weit weg von den Wirtschaftszentren, scheint weiterhin attraktiv zu sein.

Allerdings gefährdet das dortige Wachstum und vor allem der Verkehr, den es mit sich bringt, genau die Dorfidyllen, deretwegen die Menschen eigentlich dorthin ziehen – und sorgen für noch mehr Pendlerstress und Freizeitverkehr. Andere Orte, an denen die Schweiz wächst, sind Agglostädte wie Dübendorf bei Zürich, auch als «Dubai der Schweiz» bekannt, wo auf ehemaligen Industriebrachen Hochhausquartiere auf dem Reissbrett entstanden sind.

«Eigentlich ermöglicht das heutige Raumplanungsgesetz, an zentraler Lage zu verdichten», sagt Raumentwicklungsforscherin Sibylle Wälty. Doch das werde nicht umgesetzt. Und leider sei es günstiger und einfacher, auf der grünen Wiese zu bauen. «So wächst der Druck, doch wieder zusätzliches Land einzuzonen. Der Ausbau von Bahn und Strasse verschlingt Milliarden. Und die Mieten in den Städten werden noch teurer, weil dort zu wenig Wohnraum angeboten wird.»

Uster will das besser machen. Mit einer neuen Bau- und Zonenordnung, die Verdichtung fördert. Das muss nicht immer auf Hochhäuser hinauslaufen. Im Westen des Bahnhofs stehen Einfamilienhäuser, mehr Schweiz geht nicht. Grüne Läden, im Garten ein Nussbaum, Doppelgarage und ein Kindervelo, das am Gartenzaun zur Tempo-30-Strasse lehnt.

Bauvorstand Stefan Feldmann geht einmal den Zaun entlang, blickt die Fassade hoch und dann auf das Beet mit Rosen. Er sagt: «Auf diesen Grundstücken könnten auch drei Familien in guter Nachbarschaft leben, wenn man zwei Stockwerke mehr zulässt.»

Uster soll nicht neu gebaut, sondern das Bestehende ausgebaut werden. Darum kann die Stadt Vorbild für eine Schweiz sein, die weder wie Dubai aussieht noch sich in einen gesichtslosen, von Strassen und Schienen durchschnittenen Siedlungsbrei verwandelt. Zum Plan von Uster gehört auch, dass der Stadtpark vergrössert wird, ein Velowegnetz entsteht, im Zentrum Strassen für den Autoverkehr gesperrt werden, um Platz für Fussgänger zu schaffen. Wenn Menschen enger beisammenleben sollen, brauchen sie auch mehr Freiraum.

Doch wollen wir wirklich so wohnen?

Wälty findet, Uster müsse jetzt prüfen, wo 10-Minuten-Nachbarschaften möglich sind. Rund um den Bahnhof zum Beispiel sollte die Raumplanung Voraussetzungen schaffen, damit sich die Einwohnerzahl verdoppeln kann.

Feldmann, Politiker seit 30 Jahren, lächelt, als er von diesem radikalen Vorschlag hört. Die örtliche SVP hat bereits eine Initiative lanciert, die einen geplanten Parkplatzabbau im Zentrum verhindern will. «Wir können eine Stadt wie Uster nur Schritt für Schritt entwickeln, sonst machen die Leute nicht mit.»

Noch ist in Uster vieles Szenario. Dass es nicht immer kommt wie erhofft, muss man hier niemandem sagen. Anita Bellini schiebt ihr Velo durch die Schluchten der Kern-Hochhäuser, einer Überbauung direkt beim Bahnhof. Es ist eine Betonwüste. Ein paar lieblos hingepflanzte Sträucher, wenig Bänke, wenig Läden, kaum Passanten, dafür Tiefgarageneinfahrten wie Tunnelportale.

«Auf den Visualisierungen in der Zeitung war hier eine Flaniermeile. Doch in der Realität flaniert hier niemand», sagt die 40-jährige Mutter zweier Kinder. Sie heisst nicht Bellini, ihren richtigen Namen will sie aber nicht im Beobachter lesen, dafür sei die Stadt zu klein, sagt sie, die sich als eher links einstuft und mit ihren Tattoos und dem Blumenrock auch ein Zürcher Szeni sein könnte.

Als Alleinerziehende ist sie besorgt, wenn in Uster nur noch Wohnungen entstehen, die sie nicht bezahlen kann. Wohnungen wie in der Kern-Überbauung, die oben einen herrlichen Blick auf die Berge bieten, unten zum Leben in der Stadt aber nichts beitragen. «Ich bin absolut für mehr Urbanität in Uster, aber hier existiert sie nur in den Broschüren der Immobilienverkäufer», sagt Bellini.

Wie die Theorie in die Praxis umsetzen?

Eine Einzelmeinung? Nein. Uster hat den Wakkerpreis gewonnen für die gelungene Umwandlung von einer Industrie- in eine Wohnstadt. Die Kern-Überbauung aber, die heute das Stadtbild im Zentrum prägt, räumt selbst Bauvorstand Feldmann ein, sei nicht so herausgekommen, wie man sich das vorgestellt hatte. Trotz Stadtplanung, trotz Gestaltungsplänen und Mitsprache des Stadtparlaments. Aus den Fehlern von damals habe man aber gelernt. «Es ist dem Stadtrat klar, dass das aktuelle Grossprojekt am Gerichtsplatz jetzt einfach gelingen muss, um zu zeigen, dass die Innenverdichtung stadt- und damit menschenverträglich zu machen ist.»

Wie aber funktioniert die Umsetzung von der Theorie in die Praxis? Wie wird Verdichtung vom Lieblingswort der Planer zu etwas, das die Menschen als Vorteil empfinden? «Planungsbehörden müssen Zonenpläne unter Berücksichtigung von Verkehr, sozialer Durchmischung, Flächenverbrauch und CO2-Ausstoss transparent vorbereiten. Diese Transparenz fehlt oft in der Schweizer Raumplanung.» So könne kein demokratischer Verhandlungsprozess für nachhaltige Raumplanung entstehen, der Konsens für zukünftige Bauprojekte fördere.

Bauvorstand Feldmann ist wieder beim Bahnhof angelangt, der Rundgang durch die Stadt ist zu Ende. Zwischen rauchenden Taxifahrern und Bauarbeitern, die an den Tischchen vor dem Kiosk einen frühen Mittag machen, wirken all die Pläne für 10-Minuten-Städte, neue Verkehrskonzepte und Stadtaufwertung weit weg. Auch die 10-Millionen-Schweiz mit all ihren Problemen und Chancen. «Wir können uns bestmöglich vorbereiten, immer im Wissen darum, dass am Ende die Realität doch anders sein wird», sagt Feldmann und macht sich auf den Weg zurück ins Stadthaus.

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