Der Abstimmungstermin naht, Befürworter und Gegner der Initiative für eine 13. AHV-Rente fahren ihre Aktivitäten hoch. Gemäss letzten Umfragen hat die Initiative eine gute Chance, angenommen zu werden, doch traditionell schrumpft das Ja-Lager meist in den letzten Wochen noch ein wenig. Es dürfte eng werden.
Eines der stärksten Argumente der Gewerkschaften, die hinter der Initiative stehen, ist eine Grafik: Sie zeigt, dass die durchschnittlichen Neurenten im Pensionskassensystem (BVG) in den letzten Jahren gesunken sind. Es brauche also einen Ausbau der AHV, um Kaufkraftverluste auszugleichen, so die Forderung.
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«Die tiefen Kapitalerträge im BVG führen zu tieferen Renten im Vergleich zu vor zehn bis fünfzehn Jahren», sagte Gewerkschafts-Chefökonom Daniel Lampart auch vor kurzem im Interview mit der Handelszeitung. Und ein «Faktencheck» des Gewerkschaftsbunds vom Februar hält fest: «Die Renten der Pensionskassen sind seit 2005 real bereits um 13 Prozent zurückgegangen. Gerade in den letzten Jahren sind sie regelrecht weggeschmolzen.»
Der Blick in die Statistiken des Bundes scheint den Gewerkschaftern zunächst recht zu geben: Zwischen 2015 und 2022 sind die Anfangsrenten jener, die neu pensioniert wurden, tatsächlich gesunken. Von durchschnittlich 27’825 Franken pro Jahr auf zuletzt 25’873 Franken, und zwar nominell, also ohne Berücksichtigung der Inflation. Das Pensionskassensystem erodiert. Oder etwa doch nicht?
Nur die halbe Wahrheit
Recherchen der Handelszeitung zeigen: Die Neurentenstatistik vermittelt ein falsches Bild. Zwar ist unbestritten, dass sich die Konditionen für Neurentner verschlechtert haben. Der sogenannte Umwandlungssatz, mit dem das angesparte Kapital in eine Rente umgewandelt wird, ist bei praktisch allen Pensionskassen gesunken. Von durchschnittlich 6,05 Prozent im Jahr 2014 auf 5,2 Prozent im Jahr 2022. Aus gleich viel Sparguthaben wurde somit 14 Prozent weniger Rente. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
In der gleichen Zeit haben auch die Kapitalbezüge bei der Pensionierung massiv zugenommen. Statt ihr Geld in der Pensionskasse zu lassen und als Rente zu beziehen, heben immer mehr Pensionierte Kapital ab. Teilweise handelt es sich auch um Altersguthaben, das gar nicht direkt in eine Rente gewandelt werden kann, weil es zum Beispiel auf einem Freizügigkeitskonto liegt.
Die Zahlen sind eindrücklich: 2015 wurden 7,5 Milliarden Franken bei der Pensionierung aus dem PK-System abgezogen. Bis 2022 stiegt der Betrag auf 14,8 Milliarden Franken an. Und Vorbezüge in den Jahren vor der Pensionierung sind darin noch nicht enthalten. Der Effekt ist klar: Das Geld fehlt in den Pensionskassen, die Renten fallen entsprechend tiefer aus. Doch verschwunden ist es nicht, denn die Rentner können ja darüber verfügen.
Höhere Kapitalleistungen
Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands Asip, bestätigt den Effekt. «Die von linken und gewerkschaftlichen Kreisen immer wieder gemachte Aussage, wonach die Pensionskassenleistungen stetig sinken würden, ist damit nachweislich falsch», sagt er. «Korrekt ist, dass die durchschnittliche Rentenhöhe beim Erstbezug sinkt. Die höheren Kapitalleistungen können diesen Effekt aber um mehr als das Doppelte wettmachen.»
Die Handelszeitung hat berechnet, wie hoch die Durchschnittsrenten wären, wenn das aus den Pensionskassen und Freizügigkeitseinrichtungen bezogene Kapital ebenfalls in eine Rente umgewandelt worden wäre.
Und dann sieht plötzlich alles anders aus. Die so berechnete Gesamtrente ist deutlich höher: rund 40 Prozent im Jahr 2015, mehr als 60 Prozent im Jahr 2022.
Nicht nur entfällt der unterstellte Rückgang. Seit 2021 wären die Durchschnittsrenten sogar gestiegen. Trotz gesunkenen Sparzinsen und tieferen Umwandlungssätzen starteten die neuen Rentnerinnen und Rentner also mit mehr in den Ruhestand als jene in den Jahren zuvor.
Asip-Direktor Müller-Brunner kommt mit eigenen Berechnungen zu einem ähnlichen Schluss: «In den Jahren 2015 bis 2020 sind die Neurenten ohne Kapital deutlich gesunken, insgesamt um knapp 10 Prozent. Rechnet man die Kapitalbezüge mit ein und verrentet diese, kommt man ziemlich genau auf einen Leistungserhalt», so Müller-Brunner. «Seit 2020 sind die Kapitalbezüge deutlich angestiegen, sodass das Leistungsniveau sogar steigt, wenn man alles in Rentenform rechnet.»
Gewerkschaftsbund lässt Vorwurf nicht gelten
Werben die Gewerkschaften also mit falschen Aussagen? Gabriela Medici vom Gewerkschaftsbund will den Vorwurf nicht gelten lassen. Zwar sei es tatsächlich «nicht befriedigend», dass es bislang nicht möglich sei, die Kapitalbezüge in der offiziellen Neurentnerstatistik direkt mit den Rentenbezügen zu verknüpfen. «Die Aussage, wonach unter Berücksichtigung der Kapitalauszahlungen die Renten sogar leicht steigen würden, scheint hingegen wenig plausibel und widerspricht auch anderen Publikation von Banken und Vorsorgespezialisten», so Medici. Der verzeichnete Rentenrückgang sei auch nicht der einzige Hinweis auf eine «sinkende Leistungsfähigkeit der 2. Säule». Sie verweist auf die tieferen Zinsen und sinkenden Umwandlungssätze.
Tatsächlich ist es kein gutes Zeichen für das Rentensystem, wenn immer mehr Pensionierte ihr Geld lieber abziehen, als sich damit eine lebenslange Rente garantieren zu lassen. Der Grund dafür dürfte unter anderem in den Umwandlungssätzen liegen, die von vielen mittlerweile wohl als zu tief betrachtet werden. Offenbar gehen viele Rentnerinnen und Rentner davon aus, dass sie das Geld besser anlegen können als ihre Pensionskasse.