Kurz zusammengefasst
- Nuria Gorrite erzählt, was die Diagnose Brustkrebs für sie bedeutete
- Sie erhielt 800 Rückmeldungen von Frauen nach ihrer öffentlichen Bekanntmachung
- Brustkrebs betrifft eine von acht Frauen in der Schweiz
Im September vor einem Jahr hat sich das Leben der Waadtländer SP-Staatsrätin Nuria Gorrite (54) schlagartig verändert. Bei einer Routineuntersuchung erfuhr sie, dass sie an Brustkrebs erkrankt war. Wie eine von acht Frauen in der Schweiz.
Nuria Gorrite, vor einem Jahr gaben Sie bekannt, dass Sie an Brustkrebs erkrankt sind. Wie geht es Ihnen heute?
Nuria Gorrite: Ich habe die Nachricht am 21. September 2023 erhalten und sie mehr oder weniger eine Woche später bekannt gegeben. Heute geht es mir sehr gut. Sehr, sehr gut!
Alles begann letztes Jahr mit einem Besuch bei Ihrem Arzt. Erzählen Sie uns davon.
Es war eine Routineuntersuchung, wie ich sie seit meinem 40. Lebensjahr mache. Diese Vorsichtsmassnahme wurde mir empfohlen, da es in meiner Familie einige Krebsfälle gab. Nicht unbedingt an der Brust. Wie mit meiner Ärztin vereinbart, gehe ich alle zwei Jahre zur Untersuchung. Dieses Mal war es nicht anders als sonst.
Mit welchen Gefühlen sind Sie zur Untersuchung gegangen?
Meine Mutter war drei Monate zuvor an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, der ihr kaum eine Chance liess. Das hat mich sehr mitgenommen. Am Tag der Untersuchung hatte ich meinem Team gerade gesagt, dass ich in meinem Trauerprozess weit vorangeschritten bin. Ich war voller Pläne und voller Tatendrang. Ich wollte mich am Morgen schnell untersuchen lassen, bevor ich wieder ins Büro ging und mich in meine Akten vertiefte. Aber als ich das Gesicht meiner Radiologin nach meiner Mammografie sah, wusste ich sofort, dass das nicht die übliche Geschichte war.
Was hat Ihnen Ihre Radiologin gesagt?
Sie ist eine Fachfrau. Sie sagte mir in aller Ruhe, dass da etwas sei, wahrscheinlich ein kleiner Krebs, und dass wir sofort eine Biopsie machen würden. Die Bestätigung kam am nächsten Tag bei meiner Gynäkologin: Es war ein Karzinom in einem sehr frühen Stadium. Danach ging alles sehr schnell.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Bestätigung erhielten, dass Sie Krebs haben?
Ich dachte an meine Tochter. Wie soll ich es ihr sagen? Und wie erkläre ich meinem Vater, dass meine Krankheit anders ist als die von Mama? Ich habe gewartet, bis ich die genauen Informationen hatte, um die Unsicherheit so gering wie möglich zu halten. Es war wichtig, mich zuerst der Familie gegenüber zu öffnen, bevor ich weitere Massnahmen treffe.
Wie hat Ihr Umfeld auf die Ankündigung reagiert?
Wie alle anderen auch. Zuerst war es ein Schock. Dann war meine Tochter eine grossartige Unterstützung. Mein Vater ist 80 Jahre alt. Es war also eher ich, die ihn in dieser Zeit begleitet hat. Es ist ein Alter, in dem man ein wenig zu den Eltern seiner Eltern wird.
Hat Sie diese Diagnose mit Ihrem eigenen Tod konfrontiert?
[Stille] Ja.
Haben Sie zum ersten Mal darüber nachgedacht?
Nein. Während der Begleitung meiner Mutter, die fast zwei Monate lang auf der Palliativstation lag, habe ich mich leider – oder zum Glück? – mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Etwas, was wir in unserer Gesellschaft gerne verdrängen. Eine Gesellschaft, in der man jung, schön, sportlich und leistungsfähig sein muss. Es gibt wirklich einen Zwang zum Erfolg und somit wenig Platz für Spiritualität und den Tod. Die Krankheit und der Tod meiner Mutter haben mich mit diesen Tabus konfrontiert.
Hatten Sie Angst davor, Ihre Krankheit öffentlich zu machen und damit eine verletzliche Seite von sich zu zeigen?
Nein. Natürlich war es mir wichtig, mit meinen Angehörigen darüber zu sprechen, bevor sie es aus der Presse erfahren. Ich habe sie auch gefragt, ob sie damit einverstanden sind, dass alles an die Öffentlichkeit geht. Aber schon bald wurde mir klar, dass ich keine andere Wahl habe.
Warum?
Ich bin der Meinung, dass es eine Pflicht zur Transparenz gibt und dass die Bevölkerung das Recht hat, zu erfahren, warum eine Staatsrätin drei Monate lang abwesend ist. Ausserdem ist Brustkrebs keine Krankheit, für die man sich schämen muss. Brustkrebs betrifft eine von acht Frauen – und immer jüngere. Wenn man darüber spricht, kann man auch das Bewusstsein schärfen und zur Prävention aufrufen: Gehen Sie zur Vorsorgeuntersuchung!
Was hat es bewirkt, dass sie Ihre Krankheit öffentlich gemacht haben?
Ich habe 800 Rückmeldungen von Frauen erhalten.
800?
Ja, das war überwältigend. Diese Frauen schrieben mir und erzählten mir ihre Geschichte, die ihrer Mutter, ihrer Tante, ihrer Tochter oder ihrer Cousine. Obwohl ich viel zu tun hatte, habe ich allen geantwortet.
Sie haben den Ruf, ein enormes Arbeitstier zu sein: zuerst als Gemeindepräsidentin von Morges, als Parlamentarierin und dann als Staatsrätin. War Ihnen schwindelig, als Sie aufhören mussten?
Ich hatte grosse Angst. Als mein Onkologe mir sagte, ich müsse drei Monate pausieren, war meine erste Reaktion: Das ist unmöglich. Er sah mich an und sagte: «Sie müssen wohl …»
Haben Sie etwas aus dieser Zwangspause gelernt?
Es war das erste Mal seit meinem Mutterschaftsurlaub vor 26 Jahren, dass ich mich für mich selbst entscheiden musste. Ich wusste nicht, wie das geht. Ich war immer auf eine Art getrieben - vom politischen Amt, von der Arbeit, von der Begegnung mit Menschen. Es war immer so, als würde das von aussen kommen, es ist schwer zu beschreiben. Nun zeigte mir mein Körper zum ersten Mal Grenzen auf.
Wenn man Ihnen zuhört, hat man den Eindruck, Sie haben eine andere Seite von sich kennengelernt.
Absolut. Wenn man in der Politik tätig ist, kann man sich manchmal in Hybris üben. Man verlangt viel von sich selbst. Manche Tage beginnen mit Sitzungen um 7 Uhr und enden sehr spät. Man geht nach Hause ins Bett, schläft bis 5.15 Uhr und fängt wieder von vorne an. In gewisser Weise habe ich mich lange Zeit unbesiegbar gefühlt. Bis diese sehr intensive Krankheit mich traf und mir paradoxerweise guttat.
Was meinen Sie mit «gut»?
Ich habe bereits Achtsamkeitsmeditation und Pilates gemacht, aber seitdem schone ich meinen Körper noch mehr. Ich trinke weniger Alkohol, achte auf guten Schlaf, werde von einer Ernährungsberaterin betreut. Diese Rückbesinnung auf mich selbst, insbesondere auf die Spiritualität, hat mir während der Behandlungszeit sehr geholfen.
Sind Sie zurzeit in Behandlung?
Ich mache eine Hormontherapie, die fünf bis sieben Jahre dauern wird. Ich habe Glück, denn ich vertrage sie sehr gut. Für andere, vor allem jüngere Menschen, kann es viel schwieriger sein. Die Nebenwirkungen können happig sein. Das muss in der Arbeitswelt berücksichtigt werden!
Was möchten Sie Ihren Leidensgenossinnen, den rund 6000 Frauen, bei denen in der Schweiz jedes Jahr Brustkrebs diagnostiziert wird, sagen?
Dass ich eine von ihnen bin. Und dass es wichtig ist, dass wir uns umeinander kümmern.
Wird diese Legislaturperiode Ihre letzte sein?
Die Statuten meiner Partei sind klar (Anmerkung der Redaktion: Nuria Gorrite müsste eine Ausnahmeregelung beantragen, falls sie für weitere fünf Jahre kandidieren möchte). Drei Jahre vor den kantonalen Wahlen ist es jedoch viel zu früh, um mich festzulegen. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart. Ich habe noch viel Energie und viele spannende Dossiers zu bewältigen. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich eine gute Diskussion mit meiner Partei führen. Wir werden die Interessen der Bevölkerung, ihre und meine, in die Gleichung einbeziehen. Und das ist neu für mich.