Abtretender Corona-Task-Force-Leiter kritisiert den Bundesrat
«Datenlage bei Rückkehrern ist mangelhaft»

Matthias Egger (63), Leiter der wissenschaftlichen Taskforce, tritt zurück. Und spart nicht mit Kritik am Bundesrat.
Publiziert: 18.07.2020 um 23:25 Uhr
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Aktualisiert: 19.07.2020 um 01:38 Uhr
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Per Ende Monat tritt Matthias Egger als Leiter der wissenschaftlichen Taskforce zurück – auf eigenen Wunsch.
Foto: keystone-sda.ch
Interview: Camilla Alabor

In den letzten Wochen entstand zunehmend der Eindruck, der Bundesrat ignoriere die Empfehlungen der Wissenschaft – egal, ob es um die Quarantäne für Einreisende aus Risikoländern ging oder die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Wo liegt genau das Problem?
Matthias Egger: Insgesamt würde ich die Arbeit der Taskforce als sehr positiv und einflussreich beurteilen. Es ist ja nicht so, dass der Bundesrat nie auf die Taskforce gehört hätte – manchmal hat es einfach ein wenig Zeit gebraucht.

Dennoch haben Sie sich zwei Wochen direkt an die Bevölkerung gewandt mit dem Aufruf, Bars und Clubs zu meiden. Daraus spricht doch eine gewisse Verzweiflung ob der Untätigkeit der Politik.
Angesichts der radikalen Öffnungsschritte des Bundesrats Ende Juni beschloss die Taskforce, sich deutlicher zu äussern. Zu diesem Zeitpunkt lag die Reproduktionszahl über 1; es drohte ein exponentieller Anstieg der Fallzahlen. Aus epidemiologischer Sicht waren die radikalen Lockerungsschritte ohne Begleitmassnahmen nicht angezeigt, das wollten wir stärker kommunizieren.

Mit welchem Erfolg?
Wenig später haben mehrere Kantone reagiert und die Anzahl Personen pro Club limitiert. In dem Sinne hat unsere Intervention Wirkung gezeigt.

Wobei die Taskforce davor gewarnt hatte, Clubs überhaupt wieder zu öffnen. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu einem Superspreader-Event kommt?
Ich gehe davon aus, dass es zu weiteren Superspreader-Fällen kommt. Allerdings sollte jetzt die Nachverfolgbarkeit gegeben sein. Mehr Sorgen macht mir derzeit der schleichende Anstieg der Test-Positivität.

Was meinen Sie damit?
Seit Ende Juni hat der Anteil positiver Tests von unter 0,5 Prozent auf heute 2 Prozent zugenommen, obwohl zunächst deutlich mehr getestet wurde. Das deutet darauf hin, dass sich das Virus in der Bevölkerung langsam wieder ausbreitet, unabhängig von Superspreader-Events. Ein weiterer Hinweis dafür sind die Resultate von Tests der Armee bei asymptomatischen Rekruten. Dabei zeigte sich, dass 0,3 Prozent der Getesteten infiziert waren. Fast ein halbes Prozent hatte sich also infiziert, ohne dass die Rekruten es merkten. Auch dies deutet darauf hin, dass sich das Virus in der Bevölkerung unbemerkt weiterverbreitet.

Wie geht das zusammen mit der Tatsache, dass die Fallzahlen in den letzten Wochen relativ konstant scheinen?
Heute testen wir wieder weniger als Anfang Juli, dennoch sind gestern Samstag wieder 110 neue Fälle dazugekommen. Ich gehe davon aus, dass zurzeit einige Infektionen nicht oder erst spät diagnostiziert werden. Falls in der nächsten Zeit wieder vermehrt getestet wird, werden wahrscheinlich auch die Fallzahlen weiter ansteigen. Die gute Nachricht ist, dass die Reproduktionszahl im Moment bei 1 liegt. Wenn sie wieder ansteigt, zeigt dies, dass es leider wieder in die falsche Richtung geht.

Neben den raschen Öffnungsschritten geriet der Bundesrat auch wegen seines unkoordinierten Vorgehens bei der Quarantänepflicht in die Kritik. Offensichtlich hatte er die Kantone nicht informiert, obwohl diese für die Umsetzung zuständig sind.
Auch in der Taskforce waren wir erstaunt darüber, wie wenig Beachtung der Umsetzung der Weisungen geschenkt wurde. Inzwischen wird das Thema viel ernster genommen, das ist positiv. Was mich aber immer noch etwas irritiert: Wir wissen offenbar nicht genau, wie viele Fälle auf Rückkehrer und Touristen zurückzuführen sind. Der Corona-Verantwortliche des BAG, Stefan Kuster, sprach von 25 Prozent, während der Leiter Krisenbewältigung, Patrick Mathys, kürzlich von 10 Prozent gesprochen hat.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Offenbar ist die Datenlage weiterhin mangelhaft. Man weiss nicht, wie viele Personen aus Risikoländern in die Schweiz eingereist sind, wie viele sich in Quarantäne begeben haben und wie viele davon in Quarantäne geblieben sind. Ich begrüsse es, dass künftig Stichproben gemacht werden und die Passagierlisten an die Kantone weitergegeben werden. Wobei mir ein Punkt wichtig erscheint: Nicht für alle Betroffenen ist es einfach, in Quarantäne zu gehen. Ich denke da zum Beispiel an alleinerziehende Mütter oder ältere, gebrechliche Menschen. Da müsste man überprüfen, ob solche Leute Hilfe benötigen, damit die Quarantäne eingehalten werden kann.

Wenig Voraussicht hat der Bundesrat auch beim Übergang von der ausserordentlichen in die besondere Lage bewiesen. Damit wurde der nationale Krisenstab aufgelöst – der Austausch der Wissenschaft mit Bund und Kantonen blieb aus.
Die letzten Wochen waren für die Taskforce tatsächlich schwierig, weil durch die Auflösung des Krisenstabs unserer wichtigster Ansprechpartner fehlte. Ab dem 1. August wird sich das ändern, da wir ab dann ein neues Mandat haben. Dadurch wird sich hoffentlich auch der Austausch mit dem BAG wieder intensiver gestalten. Schon heute ist der Austausch wieder enger.

Eine wichtige Rolle bei der Eindämmung des Virus sollte auch die Covid-App spielen. Allerdings wird sie derzeit von weniger als einer Million Menschen genutzt. Woran hapert es?
Es ist schade, dass nicht mehr Leute die App heruntergeladen haben. Hier wäre auch ein klares Signal aus der Politik wünschenswert – zum Beispiel, dass alle Bundesrätinnen und Bundesräte die App installiert und eingeschaltet haben. Zudem bräuchte es eine offensivere Kommunikationskampagne. Denn die App ist einfach anzuwenden und hat das Potenzial, Infektionsketten effizient zu unterbrechen. Sie ist zudem eine sehr kostengünstige Massnahme.

Wie entspannt sehen Sie dem Herbst entgegen, wenn die Fallzahlen wieder ansteigen dürften?
Die Ausgangslage für den Herbst und Winter ist nicht unbedingt gut. Die Durchimpfung für die normale Grippe ist in der Schweiz tief und hat in den letzten Jahren sogar abgenommen. Bei den Risikopersonen empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation eine Impfquote von 75 Prozent; in der Schweiz waren es laut der Gesundheitsbefragung gerade mal 35 Prozent.

Weshalb ist das ein Problem?
Die Gefahr besteht, dass wir mit den Kapazitäten in den Spitälern an den Anschlag kommen. Zudem wissen wir nicht, was passiert, wenn Menschen sowohl an der Wintergrippe wie auch am Coronavirus erkranken. Schwere Verläufe sind da wohl programmiert. Wie wir seit kurzem wissen, ist die Schweiz knapp an einer Überlastung vorbeigeschrammt – wir waren zu Spitzenzeiten Mitte April bei fast 100 Prozent Auslastung aller Betten auf den Intensivstationen. Hätte der Bundesrat die Massnahmen statt Mitte März eine Woche später verordnet, hätten wir auf unseren Intensivstationen wohl Probleme bekommen.

Sie sagen, es drohte ein Szenario wie in der Lombardei?
Wären die Massnahmen eine oder zwei Woche später gekommen, hätte man im Tessin möglicherweise Zustände wie in Norditalien gehabt, ja.

Welche Lösungen gibt es, um den drohenden Kapazitätsengpass im Winter abzuwenden?
Die gute Nachricht ist, dass Handhygiene, Distanzhalten und Masken sowohl vor der Grippe wie vor Covid-19 schützen. Und gegen die Wintergrippe haben wir eine Impfung. Die Impfquote bei den Risikopersonen sollte sich erhöhen lassen. Auf 75 Prozent werden wir wohl nicht kommen – einerseits, weil sich nicht alle impfen lassen wollen, und andererseits, weil dafür möglicherweise nicht genug Impfstoff vorhanden ist. Auch die Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus kommt gut voran. Vielleicht steht ein solcher in einigen Monaten zur Verfügung, auch wenn die ersten Corona-Impfstoffe kaum hundertprozentig wirksam sein werden. Und dann sind auch Tests in Entwicklung, mit denen man aufs Mal auf das Grippevirus und das Coronavirus testen kann.

Weshalb treten Sie per Ende Juli zurück, nach nur drei Monaten als Leiter der Taskforce?
Wir sind zum Schluss gekommen, dass der Wechsel von der ausserordentlichen zur besonderen Lage ein guter Zeitpunkt darstellt, um die Leitung in neue Hände zu geben. Denn es war für mich in den letzten Monaten schwierig, alles unter einen Hut zu bringen: die Taskforce, das Präsidium des Forschungsrats des Nationalfonds und meine Forschungstätigkeit an der Uni Bern. Ich bin daher froh, dass ich jetzt wieder mehr Zeit habe, mich meinen anderen Aufgaben zu widmen.

Dann wurden Sie nicht zum Rücktritt gedrängt – etwa wegen Ihrer Kritik am Bundesrat?
Nein, überhaupt nicht. Ich war natürlich ab und zu kritisch – und das wird die Taskforce auch weiterhin sein. Es ist wichtig, dass sich die Taskforce unabhängig äussern kann; das ist ihre Aufgabe und ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung dieser Krise.

Gönnen Sie sich nach Ihrem Rücktritt Ende Juli erstmals etwas Ferien?
Nein, ich muss im August noch eine grosse Projekteingabe erledigen. Aber danach machen meine Frau und ich eine Woche Ferien, die wir wohl in den Bergen verbringen.

Ihre Frau, Nicola Low, ist ebenfalls Epidemiologin und Mitglied der Taskforce. Wie oft ist Corona zu Hause am Küchentisch ein Thema?
(Lacht) Konstant. Für unsere zwei Töchter ist das manchmal etwas bemühend. Aber die eine studiert Medizin, von daher interessiert sie das auch. Die jüngere hat vor kurzem die Matur gemacht – ihr wird es manchmal etwas zu viel.

Bund erweitert Liste der Risikoländer

Ferienrückkehrer, die in ein Risiko­gebiet gereist sind, müssen zehn Tage in Quarantäne. Das hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) diese Woche abermals bekräftigt. Wer dem nicht Folge leistet, wird hart bestraft. Bis zu 10000 Franken müssen Quarantäne-Sünder blechen, wenn sie die Regeln des Bundes missachten. Die Liste umfasst aktuell 29 Länder, die auf der Seite des BAG ­abrufbar ist.

Zu den Risikoländern gehören unter anderen Serbien, Kosovo und der Schengen-Staat Schweden. Im Verlauf der ­kommenden Woche soll die Länderliste erweitert werden. Neu auf die ­Liste kommen wird etwa Luxemburg. «Rund zehn Prozent der Corona-­Fälle sind importiert. Diese Zahl gilt es ernst zu nehmen», sagte der BAG-Krisen-­Manager Patrick Mathys an einer Medienkonferenz des Bundes vom Freitag. Nach wie vor wird die Einhaltung der Quarantäne nicht flächen­deckend kontrolliert.

Stattdessen setzt das BAG auf Eigenverantwortung. So sollen sich Ferienrückkehrer selbst informieren und sich selbständig in Quarantäne begeben. Das BAG wird lediglich Stichproben durchführen. Unklar bleiben dabei die rechtlichen Auswirkungen der Quarantäneverordnung. Aus Sicht des Arbeitgeberverbands kann einem Arbeitnehmer ein Verschulden vorgeworfen werden, wenn er sich in ein Risikogebiet begibt und bei der Rück­reise die behördlich angeordnete Quarantäne antreten muss.

Bei einer solchen selbst verschuldeten Arbeitsverhinderung habe der Arbeitnehmer kein Anrecht auf eine Entschädigung. Arbeit­nehmerverbände indes fordern auch während der Quarantäne eine Lohnfortzahlung.

Ferienrückkehrer, die in ein Risiko­gebiet gereist sind, müssen zehn Tage in Quarantäne. Das hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) diese Woche abermals bekräftigt. Wer dem nicht Folge leistet, wird hart bestraft. Bis zu 10000 Franken müssen Quarantäne-Sünder blechen, wenn sie die Regeln des Bundes missachten. Die Liste umfasst aktuell 29 Länder, die auf der Seite des BAG ­abrufbar ist.

Zu den Risikoländern gehören unter anderen Serbien, Kosovo und der Schengen-Staat Schweden. Im Verlauf der ­kommenden Woche soll die Länderliste erweitert werden. Neu auf die ­Liste kommen wird etwa Luxemburg. «Rund zehn Prozent der Corona-­Fälle sind importiert. Diese Zahl gilt es ernst zu nehmen», sagte der BAG-Krisen-­Manager Patrick Mathys an einer Medienkonferenz des Bundes vom Freitag. Nach wie vor wird die Einhaltung der Quarantäne nicht flächen­deckend kontrolliert.

Stattdessen setzt das BAG auf Eigenverantwortung. So sollen sich Ferienrückkehrer selbst informieren und sich selbständig in Quarantäne begeben. Das BAG wird lediglich Stichproben durchführen. Unklar bleiben dabei die rechtlichen Auswirkungen der Quarantäneverordnung. Aus Sicht des Arbeitgeberverbands kann einem Arbeitnehmer ein Verschulden vorgeworfen werden, wenn er sich in ein Risikogebiet begibt und bei der Rück­reise die behördlich angeordnete Quarantäne antreten muss.

Bei einer solchen selbst verschuldeten Arbeitsverhinderung habe der Arbeitnehmer kein Anrecht auf eine Entschädigung. Arbeit­nehmerverbände indes fordern auch während der Quarantäne eine Lohnfortzahlung.

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