Täter bleiben plötzlich auf freiem Fuss
Staatsanwälte schicken Kriminelle nicht mehr in den Knast

Minus 50 Prozent! Vom einen auf das andere Jahr sank die Zahl der verhängten Gefängnisstrafen unter sechs Monaten massiv. Die Gründe sind unklar. Das Bundesamt für Statistik hegt einen brisanten Verdacht gegenüber den Schweizer Staatsanwälten.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 06:35 Uhr
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2024 wurden deutlich weniger Personen für unbedingte Freiheitsstrafen unter 6 Monaten ins Gefängnis geschickt als im Jahr zuvor. Es waren 3000 statt 6000.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Kurze Gefängnisstrafen in der Schweiz sind 2024 stark zurückgegangen. Dafür wurden mehr Geldstrafen verhängt
  • Konkret: Die Zahl unbedingter Freiheitsstrafen unter sechs Monaten ist von 6000 auf 3000 gesunken
  • Der Verdacht: Wollen überlastete Staatsanwälte keine Einvernahmen mehr machen?
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lucien FluriCo-Ressortleiter Politik

Eingesperrt, sozial geächtet, abgeschnitten von Familie, Freunden und der Welt: Ein Knastaufenthalt ist eine unangenehme Sache. 

Im Moment aber haben Kriminelle in der Schweiz ein bisschen Glück: Die Chance ist gross, dass Straftäter gerade nicht ins Gefängnis müssen. Jedenfalls, wenn ihre Delikte für weniger als ein halbes Jahr Freiheitsstrafe ausreichen. Das zeigen Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Die Zahl von unbedingten Gefängnisstrafen unter sechs Monaten ist im letzten Jahr massiv zurückgegangen – um fast die Hälfte. 

Ob Sufffahrt, Einbruchdiebstähle oder Ausländerrecht: Der Rückgang ist durchs Band der Delikte zu sehen. Schweizer sind ebenso betroffen wie Ausländer. Statt rund 6000 kurze Freiheitsstrafen wie 2023 wurden im Jahr 2024 gerade noch 3000 verhängt. Straftäter erhalten laut der Statistik jetzt öfter Geldstrafen aufgebrummt. 

Bürokratie, überfüllte Gefängnisse, fehlender Nutzen?

Wie kommt es, dass sich von einem auf das andere Jahr die Strafpraxis so abrupt ändert? Sind die Staatsanwaltschaften lasch geworden? Blick hat in mehreren Kantonen nachgefragt. Doch Erklärungen finden sich fast keine. Die Zürcher Staatsanwaltschaft sagt etwa: «Das müssen wir der Forschung überlassen.» Dennoch: eine Spurensuche.

  • Die Gefängnisse laufen am Limit: Es gibt zu wenig Haftplätze, einige Anstalten sind zu mehr als 100 Prozent belegt. Verordnen Richter und Staatsanwältinnen weniger Gefängnisstrafen, weil sie wissen, dass das System am Limit läuft? Nein, sagen angefragte Staatsanwaltschaften. Das habe keinen Einfluss.
  • Zu wenig Nutzen? Kurze Gefängnisstrafen waren auch in der Politik immer wieder umstritten. Hinterfragt wurden Kosten und Nutzen. Es gab Versuche, die Zahl zu verringern, ab 2007 wurde dies auch teilweise umgesetzt. In den letzten Monaten gab es allerdings keine solchen Diskussionen auf nationaler Ebene.
  • Veränderte Gewichtung: Es gibt Delikte, da fallen in der Statistik meist nur Straftaten an, wenn die Polizei Ermittlungsschwerpunkte setzt. Bei Drogendelikten ist dies der Fall. Tatsächlich ging in den letzten Jahren die Zahl der Betäubungsmitteldelikte in der Kriminalstatistik massiv zurück. Allerdings kann dies höchstens teilweise eine Erklärung sein: Bei Verstössen gegen das Ausländergesetz sank die Zahl der verhängten Gefängnisstrafen, es gab aber keinen entsprechenden Rückgang bei den Delikten.
  • Überlastete Staatsanwaltschaften? Das Bundesamt für Statistik selbst hat eine brisante These, warum die Zahl der Gefängnisstrafen sank: Das Justizsystem läuft in der Schweiz am Limit, Staatsanwaltschaften klagen über die Arbeitslast. Seit dem 1. Januar 2024 greift eine Gesetzesänderung: Staatsanwälte müssen neu zwingend eine Einvernahme durchführen, bevor sie jemanden ins Gefängnis schicken. Kann es sein, dass überlastete Staatsanwaltschaften aus Effizienzgründen auf Einvernahmen verzichten und deshalb keine Gefängnisstrafen mehr verhängen? Das legt das Bundesamt für Statistik nahe.

Hat das Bundesamt für Statistik mit seiner These recht, wäre das brisant: Denn dann würde das richtige und als gerecht empfundene Strafmass nicht gesellschaftlich ausgehandelt. Massgebend für die Höhe der Strafe wäre vor allem ein bürokratischer Faktor und die Frage, ob ein Staatsanwalt gerade Zeit und Lust auf eine Einvernahme hat. Dass dies so ist, bestreitet man bei angefragten Staatsanwaltschaften aber. 

Aus Bern heisst es etwa, man halte sich bei der Strafzumessung an die Vorgaben des Strafgesetzbuches und fachliche Empfehlungen. Mehrere Staatsanwaltschaften betonen: Weitergehende Aussagen seien nicht möglich, die Daten müssten viel genauer analysiert werden. Im Aargau geht man davon aus, dass die Zahlen für 2024 nicht repräsentativ sein könnten: So habe man 2023 wegen der Einvernahmepflicht ab 2024 «die hängigen Strafverfahren, in denen eine unbedingte Freiheitsstrafe absehbar wurde, möglichst noch erledigt». 

Gleichzeitig könnte es 2024 zu weniger Urteilen gekommen sein, weil die Einvernahmepflicht die Verfahren verlängere und etliche Verfahren deshalb erst 2025 abgeschlossen werden könnten. Die Staatsanwaltschaft betont zudem, dass es um kleine Zahlen gehe. Nur 0,5 Prozent der Strafbefehle führten zu unbedingten Freiheitsstrafen.

Kantonale Unterschiede beim Strafen

Zwar ist der abrupte Rückgang vom einen auf das andere Jahr erstaunlich. Allerdings werden Straftaten so oder so nicht in jedem Fall derart einheitlich geahndet, wie man sich dies vielleicht vorstellt: Ob ein Täter ins Gefängnis muss oder nicht, hängt teils auch vom Kanton ab, in dem er verurteilt wird.

Längst nicht jeder Kanton urteilt gleich, dies zeigte kürzlich eine Studie zum Kanton Waadt: Bei den Betäubungsmitteldelikten entfällt ein Viertel der unbedingten Freiheitsstrafen in der Schweiz auf den Westschweizer Kanton. Die Waadt ist also viel strenger als andere Kantone. 

Tendenziell wird in der Romandie stärker mit Knaststrafen gearbeitet. Das wirkt sich auch auf die Zahl der benötigten Gefängnisplätze aus: Ende 2023 zählten die Ostschweizer Kantone 63 Häftlinge auf 100’000 Einwohner. In der Waadt waren es 109.

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