Die Hälfte aller Volksabstimmungen weltweit finden in der Schweiz statt. Seit Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 entschieden die Schweizer – seit 1971 auch Schweizerinnen – alleine auf eidgenössischer Ebene über 640 Vorlagen. Und diesen Sonntag kommen dort fünf weitere Plebiszite dazu. Bisher sagten die Abstimmenden zu Volksinitiativen, obligatorischen und fakultativen Referenden knapp mehrheitlich Nein.
«Ja! Nein! Yes! No! Swiss Posters for Democracy» heisst der bei Lars Müller Publishers erschienene Bildband mit Schweizer Abstimmungsplakaten aus den letzten gut hundert Jahren. Herausgeberin und Kuratorin Bettina Richter (57) präsentiert darin knapp 150 populäre, provokative, politische Poster aus der 380’000 Plakate umfassenden Sammlung des Museums für Gestaltung in Zürich – eines der weltweit umfangreichsten und bedeutendsten Archive dieser Art.
Politische Plakate erst nach Erstem Weltkrieg
«Viele Plakate haben sich ins kollektive Bildgedächtnis der Bevölkerung eingeschrieben», so Kunsthistorikerin Richter im Vorwort, «und sind zu Ikonen schweizerischer Plakatkunst geworden.» So etwa die Poster gegen das Frauenstimmrecht – 1920 mit der Zeichnung einer hysterischen Politikerin und der Überschrift: «Wollt Ihr solche Frauen?», 1946 mit einem vernachlässigten Schnuller, auf dem eine Fliege hockt – oder die Schwarz-Weiss-Rot-Malereien der rechtspopulistischen SVP aus jüngerer Zeit.
Ursprünglich waren es klassenkämpferische Sozialisten, die in der Schweiz Plakate für politische Propaganda einsetzten. Aber auch sie liessen sich Zeit: Als sich um 1900 ein an der Belle Epoque geschulter radikal neuer Plakatstil von Frankreich her durchsetzte, nutzten Tourismusförderung, Unterhaltungskultur sowie Warenwerbung dieses neue Medium. Politiker setzten nach wie vor auf Parteizeitungen, Reden, Broschüren und Flugschriften, um für ihre Ansichten zu werben.
«Der Erste Weltkrieg sollte dies ändern», schreibt der emeritierte Geschichtsprofessor Jakob Tanner (70) in seinem für den Bildband verfassten Essay. Der Krieg «wuchs sich rasch zum globalen Medienereignis aus und wurde als Kampf um Begriffe und Bilder, um Sympathie und Anerkennung geführt». In den 1920er-Jahren habe in der Schweiz trotz Kompromissen und Reformen eine schrille Klassenkampfrhetorik vorgeherrscht.
«Bildgalerie der Strasse»
«Linker Kraftmeier-Mentalität» standen bald «bürgerliche Angstmacher-Plakate» gegenüber. So wie sich der Bürger-Bauern-Block rasch dieses ursprünglich sozialistische Propagandamittel zunutze machte, so beriefen sich bei den Motiven «nicht nur konservative, sondern auch progressive Strömungen und politische Kräfte in Abstimmungsplakaten gerne auf die helvetische Mythologie», wie Bettina Richter ausführt.
Inspiriert durch US-amerikanische Werbestrategien, suchten Künstlerinnen und Künstler, Grafikerinnen und Grafiker weniger nach einer grundsätzlichen Alternative zum Geschäftsplakat, sondern transponierten dessen Prinzipien auf die kompetitiv organisierte Parteien- und Verbandsdemokratie. So kreierten sie eine populäre «Bildgalerie der Strasse» (Tanner) für die breiten Massen.
Wie kaum ein anderer mischte der Zürcher Plakat-Macher Otto Baumberger (1889–1961) auf beiden politischen Seiten mit und sorgte für flächendeckenden Einsatz der grossformatigen Strassenwerbung. «So sehr sich Baumberger persönlich mit seinen Plakatmotiven identifizierte», schreibt Tanner, «so flexibel erwies er sich politisch, indem er unter anderem Aufträge für die Sozialdemokratie und den Freisinn ausführte.»
«Satirisch, bösartig oder sentimental»
1920 erklärte Baumberger, dass das politische Plakat eine zündende Idee vermitteln soll: «Es muss (…) ein ‹Schlager› sein, einfach lapidar, auf das Verständnis auch der breitesten Massen zugeschnitten, satirisch, bösartig oder sentimental, aber immer muss eine einfache, jedem fassliche klare Idee absolut zwingend an die Köpfe geworfen werden.»
Von Baumberger stammt das Plakat mit der hysterischen Frau, mit dem man 1920 gegen das Frauenstimmrecht warb. «In seiner Darstellung ‹entweiblicht› die Politik jede Frau, macht sie zur unattraktiven Hyäne und gefährdet die traditionelle Gesellschaftsordnung», schreibt Plakatsammlungs-Kuratorin Richter. Demgegenüber kamen Pro-Poster, die mit der Rechtsgleichheit argumentierten, weit weniger plakativ daher – überzeugten so aber auch lange keine Mehrheit.
Bettina Richter (Hg.): «Ja! Nein! Yes! No! Swiss Posters for Democracy», Lars Müller Publishers
www.lars-mueller-publishers.com/ja-nein-yes-no-swiss-posters-democracy