Es ist ein heikler Entscheid, den der Bundesrat heute fällen muss. Wird er sich den Sanktionen der EU und der USA gegen Russland anschliessen oder nicht? Normalerweise sieht die Schweiz davon ab, EU-Sanktionen zu übernehmen. Sie stellt einfach sicher, dass von anderen Staaten erlassene Sanktionen nicht über unser Land umgangen werden können. Der Bundesrat begründet dies jeweils mit unserer Neutralität und unserer Rolle als Vermittlerin in internationalen Konflikten. Denn kann ein Staat neutral vermitteln, wenn er Position für eine Seite bezieht?
Der ehemalige Botschafter Paul Widmer rät denn auch, an dieser Rolle festzuhalten. «Die Schweiz sollte sich den Sanktionen nur anschliessen, wenn die Vereinten Nationen sie beschlossen haben», sagt er gegenüber «20 Minuten». Auch EDA-Staatssekretärin Livia Leu (61) signalisiert, dass es in diese Richtung gehen dürfte. Ein solches Verhalten entspräche der Schweizer Tradition. So bewahrte sich die Schweiz ihren Status als unabhängige Vermittlerin.
«Als Neutraler wird man angreifbar»
Doch so einfach ist es diesmal nicht. Der russische Präsident Wladimir Putin (69) hat der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen und einen Eroberungskrieg begonnen – und damit gegen Völkerrecht verstossen. Das erhöht den Druck auf die Schweiz.
«In einem so klaren Fall wie in der Ukraine» sei es schlicht unmöglich, zu beiden Konfliktparteien den gleichen Abstand zu halten, sagt der Völkerrechtler Oliver Diggelmann (54) im «Tages-Anzeiger». «Würde die Schweiz sich nicht positionieren, würde ihr das zu Recht als Komplizenschaft mit dem Rechtsbrecher ausgelegt.» Wenn Russland die fundamentalsten Regeln verletze und Tausende von Kriegsopfern in Kauf nehme, könne man nicht sagen: «Das geht uns nichts an», so der Professor.
Auch die Neutralität schütze da nicht: «Wir müssen uns im Klaren sein: Als Neutraler wird man sehr angreifbar, wenn die Situation eindeutig ist», so Diggelmann weiter. «Wenn wir uns hier nicht positionieren, nehmen uns andere Staaten im günstigen Fall als egoistisch wahr und im ungünstigen Fall als schwer amoralisch.»
Das darf die Schweiz
Allerdings sind der Schweiz rechtlich gewisse Grenzen gesetzt. Laut Embargogesetz kann die Schweiz keine Sanktionen in Eigenregie verhängen. Verpflichtet ist sie nur dazu, nicht-militärische Sanktionen des Uno-Sicherheitsrats umzusetzen. Diese aber dürfte es wegen des Vetorechts Russlands kaum geben.
Die Schweiz kann aber Sanktionen ihrer «wichtigsten Handelspartner» übernehmen – das wären insbesondere die EU, könnten aber auch die USA sein. Allerdings müsste der Bundesrat warten, bis die Sanktionen der anderen Staaten rechtskräftig sind.
Sicherheitsrats-Kandidatur erschwert den Entscheid
Ist das zu erwarten? Schaut man in die Geschichte, eher nicht. Die Schweiz sorgte auch 2014, nach der Annexion der Krim durch russische Kräfte, nur dafür, dass die Sanktionen anderer Staaten nicht über unser Land umgangen wurden. Das heisst: Bestehende Geschäfte mit Russland würden weiterlaufen, neue aber dürften nicht hinzukommen.
Das führte in den vergangenen Jahren mehrfach zu Kritik. Und aktuell ist die Sache noch komplizierter: Die Schweiz bewirbt sich für einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Ein allzu grosses Abseitsstehen könnte die Chancen für eine Wahl im Juni schmälern.
Eine knifflige Ausgangslage für den Bundesrat, der sich an seiner Sitzung heute Mittwoch mit der Sanktionsfrage beschäftigt. Erwartet wird, dass Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (60) am Nachmittag vor die Medien tritt und den Entscheid bekannt gibt. (sf)