Rosmarie Quadranti (64) spricht über ihre Abwahl
«Es zog mir den Boden unter den Füssen weg»

Im Oktober ist Zahltag für Politikerinnen und Politiker im Bundeshaus. Oft ist es ein harter Schlag, wenn jemand nicht wiedergewählt wird. Betroffene erzählen.
Publiziert: 06.10.2023 um 20:33 Uhr
Rosmarie Quadranti ...
Foto: EQ Images
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Sarah Serafini
Beobachter

Stellen Sie sich vor, die Öffentlichkeit stimmt regelmässig darüber ab, ob Sie Ihrem Job noch gewachsen sind, ob Sie noch taugen, man Sie noch sympathisch findet. Falls Sie nicht genug Stimmen erhalten, sind Sie Ihren Job los, müssen Ihre Sachen packen.

Klingt hart? Ist es auch. Alle vier Jahre steht in der Bundesversammlung das grosse Sesselrücken an, Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen ihren Posten verteidigen. Am 22. Oktober ist es wieder so weit.

Und so lächeln Politikerinnen und Politiker derzeit im ganzen Land von Plakatwänden, verteilen Flyer auf Dorfplätzen, machen mit Schlagworten auf sich aufmerksam, fahren auch mal die Ellbogen aus. Wenn sie nicht genug Stimmen holen, müssen sie das Bundeshaus verlassen. Bei den letzten Wahlen 2019 betraf das 29 National- und 3 Ständeräte. 

Die Niederlage traf sie persönlich

Eine Nichtwahl ist unerbittlich. Die ehemalige Nationalrätin Rosmarie Quadranti sagte nach ihrer Abwahl 2019 unverblümt: «Es geht mir beschissen. Da gibt es nichts schönzureden.» Acht Jahre lang hatte die 66-Jährige für die BDP in der grossen Kammer politisiert. «Und dann musste ich gehen. Es fühlte sich an wie ein Fristloser», sagt sie heute. «Es zog mir den Boden unter den Füssen weg.»

Sie habe gewusst, dass das Problem ihre kleine Partei war und nicht sie. Und doch traf es sie persönlich. «Es brauchte Zeit, um wieder nach vorn blicken zu können. Aber irgendwann ging es.» Seit 2022 macht sie wieder das, was sie am liebsten tut: Politik. Sie ist Mitte-Stadträtin in Illnau-Effretikon ZH.

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Heinz Brand geniesst heute die viele Freizeit, die er hat. Wie Quadranti sass er acht Jahre lang im Nationalrat. Im Oktober 2019 reichten die Stimmen für die Wiederwahl nicht. Obwohl er zu jener Zeit als SVP-Präsident im Kanton Graubünden amtete. Überraschend wurde er von der Klimaallianz, bestehend aus SP, GLP und Grünen, überholt.

«So kurz vor dem Gipfel abzubrechen, war bitter»

Der 68-Jährige erinnert sich: «Im Laufe des Tages sah ich die Wahlresultate reintröpfeln. Es zeichnete sich ab, dass ich es nicht schaffen würde.» Klar sei er enttäuscht gewesen. Vor allem, weil ihm das Präsidium des Nationalrats in Aussicht stand. «So kurz vor dem Gipfel abzubrechen, war bitter.»

Das schlechte Gefühl habe sich aber relativiert, als er sah, was sein Nachfolger machen oder eben nicht machen konnte: Die Session wurde 2020 wegen der Corona-Pandemie abgebrochen, die repräsentativen Aufgaben entfielen, Staatsbesuche wurden abgesagt.

Einen neuen Job suchen

Brand sagt, er kenne Kollegen, die nach einer Nichtwahl schwer gelitten hätten und in ein existenzielles Loch gefallen seien. «Insbesondere, wenn sie nur auf die Politiker-Karte gesetzt haben und schon im fortgeschritteneren Alter waren. Dann ist es fatal, wenn die Stimmen nicht reichen. Auch finanziell.» Denn obwohl für die grosse und kleine Kammer das Milizprinzip gilt, sind die meisten Parlamentarier hauptberuflich Politiker. Sprich: Nach ihrer Abwahl müssen sie sich einen neuen Job suchen. 

Quadranti meldete sich nach ihrer Nichtwahl beim RAV an – und noch am selben Tag wieder ab. «Das fühlte sich für mich einfach nicht gut an.» Finanziell sei sie mit ihrer Pensionskasse, Witwenrente und den Einnahmen aus kleineren Jobs einigermassen über die Runden gekommen.

Eine Abwahl als Nationalrätin bedeutet den abrupten Wegfall von im Schnitt 132'500 Franken im Jahr. Bei Ständeräten sind es 142'500 Franken. Nicht mehr Gewählte können unter Umständen eine Überbrückungshilfe beziehen. Die wird aber höchstens zwei Jahre lang ausbezahlt und beträgt maximal 2450 Franken pro Monat. Nach den Wahlen 2019 wurde die Überbrückungsrente an sechs Personen ausgerichtet – insgesamt 130'000 Franken. 

Das Zittern vor der Wahl

Adrian Wüthrich will es im Oktober nochmals wissen. Der 43-jährige SP-Mann rückte im Frühling 2018 in den Nationalrat nach, musste diesen aber im Herbst 2019 bereits wieder verlassen. Er wurde von der Frauen-Welle aus dem Parlament gespült. Nun will er sich seinen Platz zurückkämpfen. «Ich habe immer noch grosse Lust auf dieses Amt und würde gern politisch Einfluss nehmen.» Doch für den Präsidenten von Travailsuisse dürfte es schwierig werden: «Die Umfragen für die SP sind zwar positiv, aber ich habe starke Konkurrenz auf der SP-Männerliste. Und ein Sitzgewinn ist alles andere als sicher.»

Auch den Grünen und der FDP werden im Oktober Sitzverluste prognostiziert. Im Kanton Zürich macht das die Grünen-Nationalrätin Meret Schneider zur Wackelkandidatin. Sie bestreitet die letzte Etappe ihres Wahlkampfes, verteilt Flyer, aktiviert Kontakte. Für die 31-Jährige ist die Wiederwahl nicht in Stein gemeisselt. Sie wisse, dass sie nicht den allerbesten Listenplatz habe.

Bei ihrer ersten Kandidatur 2019 habe sie nichts zu verlieren gehabt. «Das ist jetzt anders.» Die Identifikation mit dem Amt sei gross. Die Rückmeldungen aus der Bevölkerung, das Gefühl, etwas bewirken zu können. Einen Plan B habe sie derzeit nicht: «Ich mache einen Plan A und setze dafür all meine Energie ein. Wenn der scheitert, mache ich einen neuen Plan A.»

Christian Wasserfallen von der FDP hat seit 2007 bereits vier Wahlen gewonnen. Auch diesmal ist der Berner guter Dinge. Aber eine Abwahl müsse man immer in Betracht ziehen: «Es ist ein latentes Risiko, das mitschwingt. Darauf muss man sich einstellen. Es ist nicht wie bei einem Arbeitsverhältnis, wo man drei Monate Kündigungsfrist hat. Es ist fristlos und damit brutal.» 

Er stört sich am Wort «Abwahl»

Dass die Wunden einer Abwahl auch vier Jahre später nicht immer ganz verheilt sind, zeigt sich beim Gespräch mit einem SP-Politiker, der 2019 nicht wiedergewählt wurde. Für ihn sei die Sache abgehakt, darüber reden möge er nicht. Auch seinen Namen möchte er nicht beim «Beobachter» lesen. Nicht in diesem Zusammenhang.

Ausserdem störe er sich an dem Wording: Von einer «Abwahl» könne keine Rede sein, schliesslich habe er ja damals Tausende Stimmen auf sich vereinen können. Er besteht darauf, von einem «Sitzverlust» zu sprechen. Oder noch besser: von einer «Nichtbestätigung». Für ihn macht es die Sache offenbar besser. Vielleicht auch nur erträglicher. 

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