Am Dienstagmorgen beugte sich die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats gemeinsam mit Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) und Bundesrat Ignazio Cassis (59) über das Rahmenabkommen. Wieder einmal. Man werde noch im November von der Landesregierung hören, beschied Sommaruga den Parlamentariern zum Abschied. Dann ging alles plötzlich sehr schnell: Am Mittwoch beratschlagte der Bundesrat, am Donnerstag telefonierte Sommaruga bereits mit Ursula von der Leyen (62), der Präsidentin der EU-Kommission. In Bern ist zu hören, dass die neue Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu (59) schon in den nächsten Wochen nach Brüssel reisen könnte, um EU-Verhandler Stefano Sannino (60) zu treffen, der ebenfalls neu im Amt ist.
Nach Monaten des Stillstands ist eines der heikelsten politischen Dossiers wieder in Bewegung geraten. Welche Instruktionen der Bundesrat Staatsekretärin Leu mit auf den Weg gibt, wird nicht verraten. Die Gespräche sollen möglichst ohne Druck der Öffentlichkeit beginnen. Eines der Ziele, so verlautet jedoch gleich aus mehreren Quellen, sei eine bessere Absicherung des Lohnschutzes: Die flankierenden Massnahmen sollen von der EU garantiert und dem Einfluss des Europäischen Gerichtshofs entzogen sein.
Weiter heisst es, der Bundesrat wolle die Unionsbürgerrichtlinie explizit aus dem Rahmenabkommen heraushalten. Diese Bestimmung würde EU-Bürgern in der Schweiz künftig den Zugang zur Sozialhilfe erleichtern.
Schliesslich solle Leu erreichen, dass sich die Einschränkung bisheriger staatlicher Beihilfen – zum Beispiel Garantien für Kantonalbanken – in engen Grenzen bewegt.
Mehrheit von Volk, Parlament und Bundesrat
Die Verhandlungspunkte Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie sind innenpolitisch entscheidend: Ohne Konzessionen der EU dürfte der Vertrag weder im Volk noch im Parlament, ja noch nicht einmal im Bundesrat eine Mehrheit finden.
Bundesratsnahe Quellen berichten, die Regierung habe Leu eingeschärft, hart zu verhandeln. Man setze zugleich ganz auf die Kreativität der erfahrenen Diplomatin. Leu wurden keine roten Linien für einzelne Teilbereiche des Vertragsentwurfs mitgegeben, sondern die knappe Devise, in den drei umstrittenen Punkten substanzielle Verbesserungen zu erzielen. Überhaupt werde jetzt zum ersten Mal richtig über die strittigen Punkte verhandelt: Weil Leus Vorgänger Roberto Balzaretti dafür gar kein Mandat hatte, konnte er letztlich nur die Forderungen der EU nach Bern vermitteln. Jetzt wartet der Bundesrat ab, wie Livia Leu sich schlagen wird. Ihr Verhandlungsergebnis will er dann abschliessend bewerten.
Dass die Unterhändlerin sämtliche Maximalforderungen durchbringen wird, scheint wenig realistisch. Die Hoffnung auf Leus Kreativität, auf die der Bundesrat schwört, schliesse auch eine gewisse Flexibilität ein, heisst es in Bern.
In einem weiteren Schritt könne sich dann auch die Schweiz bewegen – etwa beim Lohnschutz: Lasse Brüssel die Kautionspflicht für ausländische Unternehmen und die Kontrolldichte hierzulande unangetastet, wäre ein Entgegenkommen Berns bei der Voranmeldefrist denkbar.
Bedingungen für Arbeiter aus dem Ausland
Dann müsste sich künftig ein deutscher Handwerker, der in Basel einen Auftrag ausführt, nicht mehr acht Tage im Voraus anmelden, sondern vielleicht nur noch fünf oder weniger. Notfalls könnte eine Erhöhung der Kohäsionsmilliarde quasi als Schmiermittel dienen, um die EU freundlich zu stimmen.
Denn soll das Rahmenabkommen noch eine Chance haben, ist ein Entgegenkommen Brüssels zwingend. Die SVP wird alles daransetzen, sich an einer neuen Europadiskussion wieder aufzurichten. Zugleich artikuliert CVP-Chef Gerhard Pfister seine Bedenken deutlicher denn je. Und die Linke will lieber gar kein Abkommen, als der EU allzu sehr entgegenzukommen.
Oder wie es Cédric Wermuth (34, AG), Co-Präsident der SP, formuliert: «Unsere roten Linien sind bekannt, gerade beim Lohnschutz.» Man werde das Ergebnis prüfen, «aber weder die Partei noch das Präsidium wird sich verbiegen, nur damit das Abkommen im Parlament eine Mehrheit findet».
Allerdings gibt es in Bundesbern auch Optimisten: Das Rahmenabkommen sei nicht tot, sagt Eric Nussbaumer (60, BL), SP-Nationalrat und Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs): «Wenn es jetzt gelingt, rasch inhaltliche Verbesserungen zu erzielen, sind wir schneller über den Berg, als man denkt.» Eine Zuversicht, die längst nicht mehr viele Parlamentarier und Beamte teilen.