Psychiater Thomas Knecht über Online-Kommentare
«Hassschreiber sind die Hooligans des Internets»

Wir seien auf dem Weg in eine immer hasserfülltere Gesellschaft, sagt der forensische Psychiater Thomas Knecht. Denn ohne soziale Kontrolle im Internet werden Wutbürger zu Anführern – und vergiften den konstruktiven Diskurs. Warum wir die Wutschreiber wie schlecht erzogene Kinder behandeln müssen und Sommaruga-Hasser einen Mutterkomplex haben: das Interview zur Psychologie des digitalen Brandstiftens.
Publiziert: 28.02.2018 um 23:36 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 23:30 Uhr
«Wir brauchen dringend einen Bewusstseinswandel. Die Masse muss verinnerlichen, dass man durch Hasskommentare nicht zum Helden wird. Wir müssen diese Hassschreiber wie ein schlecht erzogenes Kind behandeln», sagt der forensische Psychiater Thomas Knecht.
Foto: ZVG
Cinzia Venafro

BLICK: Herr Knecht, die Redaktion hat Ihnen eine Auswahl an Hasskommentaren vorgelegt, die Leser zu Artikeln auf Blick.ch schrieben. Was ging Ihnen bei der Lektüre als Erstes durch den Kopf?
Thomas Knecht:
Die Heftigkeit der Aggressivität. Auffällig ist die Auswahl der Adressaten des Hasses: Die Schreiber schiessen sich auf Opfer ein, bei denen sie damit rechnen, von anderen Zustimmung dafür zu finden. Folglich sind die Schreiber nicht nur auf Suche nach einem Ventil, sondern auch nach sozialer Resonanz. Diese Hassschreiber wollen sich als Anführer an die Spitze einer Bewegung kommentieren. Es sind also weniger persönliche Angriffe, sondern Versuche, eine Kampagne mit Gefolgschaft einzuleiten.

Man erschreibt sich mit Hass eine Daseinsberechtigung?
Sogar noch mehr: Man macht sich zum Mittelpunkt eines Kreises, wird zum Alphatier von Gleichgesinnten. Oder bildet sich das zumindest ein.

Schwarze, Flüchtlinge, Juden, Frauen – wieso sind diese Gruppen so oft Zielscheibe?
Diese Menschen sind die Konkurrenten im Lebenskampf der Schreiber. Sie kommen ihnen in die Quere. Der Schreiber denkt: Ich bin der Gute, und all diese Leute verhindern, dass ich zu meinem Recht komme. Der Hassprediger hat die sozialen Medien bisher als perfektes Vehikel gebrauchen können, um seinen angestauten Frust loszuwerden und sich über andere zu erheben.

Einer der fleissigsten Hass-Kommentatoren auf blick.ch ist 75 Jahre alt und pensionierter Swissair-Flugingenieur. Er sagt, er fühle sich «einfach zu wenig ernst genommen von der Gesellschaft».
Diese Person geht davon aus, dass in einer Demokratie jeder gleich viel zu sagen hat. Er meint, er habe einen Rechtsanspruch auf Gehör. Wenn der BLICK ihn sperrt, fühlt sich das wie ein Maulkorb an.

Der Psychiater der Täter

Dr. med. Thomas Knecht (58) ist Leitender Arzt der forensischen Psychiatrie am Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden in Herisau. Als Gerichtspsychiater verfasste Knecht Gutachten für mehrere aufsehenerregende Gerichtsprozesse in der Schweiz, unter anderem im Mordfall des Aupair-Mädchens Lucie. Als Experte für die Psychologie des Wutes befasste er sich für BLICK mit Wut-Kommentaren, die Leser zu Artikeln verfasst hatten.

Dr. med. Thomas Knecht (58) ist Leitender Arzt der forensischen Psychiatrie am Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden in Herisau. Als Gerichtspsychiater verfasste Knecht Gutachten für mehrere aufsehenerregende Gerichtsprozesse in der Schweiz, unter anderem im Mordfall des Aupair-Mädchens Lucie. Als Experte für die Psychologie des Wutes befasste er sich für BLICK mit Wut-Kommentaren, die Leser zu Artikeln verfasst hatten.

Inwiefern ist es beruhigend, einen Hasspost abzusetzen?
Für den Schreiber hat er sogar eine reinigende Wirkung. Und wenn er einen menschenverachtenden Post formuliert, dafür Likes kriegt, ist Genugtuung die Folge. Er denkt: «Jetzt habe ich es denen gezeigt.» Diese Machtillusion tut den Menschen leider gut. Dazu fällt mir ein gemeines Tierexperiment ein: Man hat Ratten mit Elektroschocks zur Weissglut getrieben. Die eine Hälfte hatte danach die Möglichkeit, andere Ratten zu beissen. Die andere Hälfte nicht. Jetzt dürfen Sie dreimal raten, welche Gruppe Magengeschwüre bekam.

Politikerinnen sind deutlich häufiger Opfer von Internethass als ihre männlichen Kollegen. Warum?
Da rächt sich unser Geschlechterbild. Von Männern ist man sich gewohnt, dass sie ihre persönlichen Interessen verfolgen. Von Frauen erwartet die Gesellschaft, dass sie sozial agieren und immer ein offenes Ohr für die Nöte «ihrer Kinder» haben. Wenn nun eine Politikerin diesem Frauenideal nicht entspricht, erzeugt das Wut. Etwas unwissenschaftlich formuliert kann man sagen: Männer, aber auch Frauen, die sich auf Bundesrätin Sommaruga einschiessen, erwarten von ihr mütterlichen Schutz, zum Beispiel vor Immigration. Stellt sie sich dann auf die andere Seite, wird sie attackiert.

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Wo sehen Sie eine Parallele zu Ihrem Berufsalltag als forensischer Psychiater?
Zwischen Internetpöblern und solchen im Fussballstadion gibt es grosse Parallelen. Hassschreiber sind die Hooligans des Internets. Der Fussballhooligan ist ja auch ein Gruppenphänomen. Statt sich im Kollektiv die Köpfe einzuschlagen, lässt der Wutschreiber seinen Druck auf der Tastatur ab. Der psychologische Effekt ist der gleiche.

Sind wir auf dem Weg in eine immer hasserfülltere Gesellschaft?
Ich habe leider den Eindruck, ja. Immer mehr Leute brauchen ein Ventil, um ihre überschüssige Aggression loszuwerden. Insbesondere Männer. Mir kommt es vor, als ob die heutigen Lebensverhältnisse zu eng und zu reglementiert wären. Die Anpassungsfähigkeit der Menschen wird überstrapaziert. Und so werden manche zu Hooligans.

Holt Social Media das Böse aus dem Menschen heraus?
(überlegt) Ja, denn das Böse schlägt einem dort entgegen, weil die soziale Kontrolle fehlt. Wir brauchen dringend einen Bewusstseinswandel. Die Masse muss verinnerlichen, dass man durch Hasskommentare nicht zum Helden wird. Wir müssen diese Hassschreiber wie ein schlecht erzogenes Kind behandeln. Historisch gesehen ist ein Shitstorm übrigens kein neues Phänomen.

Inwiefern?
In der Antike gab es das Scherbengericht. So konnten Bürger den Namen eines missliebigen Mitbürgers auf eine Tonscherbe ritzen. Kamen genügend Scherben zusammen, wurde die Person bis zur Verbannung sanktioniert. Im Mittelalter konnte sich der Volkszorn dann am Pranger entladen. Schon damals schmissen immer die Gleichen die faulen Eier. Heute sind diese Eierschmeisser mit Computern ausgerüstet.

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