Die Spitäler? Am Anschlag. Die Ansteckungen mit dem Coronavirus? Steigen exponentiell. Und das von einem bereits bedenklich hohen Niveau aus. «Wir sind nicht da, wo wir sein wollten», erklärte Gesundheitsminister Alain Berset (48, SP). Das war am Freitagnachmittag, dem 18. Dezember. An dem Tag, an dem sich der Bundesrat zu einer Schliessung der Restaurants und Freizeitbetriebe durchringen konnte. Dem Vernehmen nach war sich die Landesregierung erstaunlich einig.
Zwar habe Finanzminister Ueli Maurer (70) die Frage aufgeworfen, ob die nun getroffenen Einschränkungen nicht doch zu weit gingen – echten Widerstand leistete der SVPler nicht. Genauso wenig wie sein Parteikollege aus dem Wirtschaftsdepartement, Guy Parmelin (61). Der Waadtländer fungiert ab Januar als Bundespräsident und möchte kaum als «Präsident der dritten Welle» in Erinnerung bleiben.
Maurers und Parmelins Partei machte in den Tagen vor der Bundesratssitzung eine erstaunliche Wandlung durch. «Zum Glück kein Lockdown», titelte die Partei am Freitag in einem Communiqué und formulierte vergleichsweise zurückhaltend, man sehe die Restaurantschliessungen «kritisch».
Am Dienstag hatte sie noch ganz andere Töne angeschlagen.
Mit Verweis auf die Beschlüsse der Landesregierung vom vorangehenden Freitag wehrte sich die SVP mit scharfen Worten gegen weitere Schritte: Es wäre «komplett irrational, der Wirkung dieser getroffenen Massnahmen vorzugreifen und zusätzliche radikale Massnahmen» zu beschliessen, liess die grösste Partei im Land verlauten.
Doch nicht nur die SVP, auch der Gewerbeverband übte diese Woche mit einem öffentlichen Powerplay Druck auf den Bundesrat aus. Noch am Mittwoch – Fallzahlen: über 5600 – ging ein offener Brief an die Regierung mit der Forderung, Läden und Restaurants nicht zu schliessen. Unterzeichnet hatten den Brief über 50 Parlamentarier aus CVP, SVP und FDP.
Hilferufe der Spitäler
Die bürgerliche Offensive stand in eigenartigem Kontrast zu den verzweifelten Hilferufen aus den Spitälern. Bereits am Sonntag berichteten die Direktoren der Schweizer Unispitäler, was sich derzeit in ihren Krankenhäusern abspielt: Krebspatienten werden wieder nach Hause geschickt, chirurgische Notfälle wegen mangelnder Kapazitäten von einem Spital an den nächsten verwiesen. «Ich bin alarmiert», sagte Gregor Zünd (61), Direktor des Zürcher Unispitals, der «Sonntagszeitung». «Die Lage ist sehr angespannt.»
Ähnlich tönte es am Dienstag aus Bern. «Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern bereits fünf nach zwölf», sagte Notfall-Chefarzt Aristomenis Exadaktylos (49) vom Berner Inselspital der «Berner Zeitung». Die Betten auf der Intensivstation seien zu 90 Prozent ausgelastet, dringende Tumor-Operationen um mehrere Wochen verschoben worden.
Am selben Tag rief die wissenschaftliche Taskforce den Bundesrat dazu auf, die Verbreitung des Virus mit schärferen Massnahmen zu stoppen; namentlich durch die Schliessung von Restaurants und sogenannten nicht-essenziellen Geschäften. «Es sterben jeden Tag in der Schweiz zu viele Menschen am Virus», sagte Taskforce-Chef Martin Ackermann (49).
Und so schienen sich die beiden Lager unversöhnlich gegenüber zu stehen: Hier die Wissenschaft und Spitäler, die – unterstützt von der Linken – auf schärfere Massnahmen drängten; dort die Bürgerlichen, die weitere Schliessungen um jeden Preis verhindern wollten.
Ein Szenario, das auf ungute Art an das Kommunikations-Chaos der vergangenen zwei Wochen erinnerte: Als die einzelnen Kantone, die Parteien und der Bundesrat alle in verschiedene Richtungen zerrten, sich gegenseitig die Verantwortung zuschoben und mit ständig neuen Regeln für Verwirrung sorgten statt für sinkende Fallzahlen.
Dass es diese Woche anders kam und sich der Bundesrat am Freitag auf griffige Massnahmen einigen konnte, lag nicht zuletzt an der aufrüttelnden Botschaft der Ärzte, heisst es in Bundesbern – im Zusammenspiel mit den dauerhaft hohen Fallzahlen. Denn diese bewegen sich in eine ganz andere Richtung als gewünscht: Statt 500 Fälle pro Tag per Ende Dezember zählt die Schweiz derzeit rund 5000.
Meinungsumschwung bei den Bürgerlichen
Die Hilferufe aus dem Gesundheitswesen waren es denn auch, die in der SVP zu einem Umdenken führten. Vizepräsident und Nationalrat Franz Grüter (57, LU) erklärt: «Wir haben mit verschiedenen Entscheidungsträgern in den Kantonen und den Spitälern gesprochen und kamen als Partei zum Schluss, dass wir die Entscheide des Bundesrates mittragen und nicht pauschal kritisieren wollen.»
Involviert in die Kehrtwende der Rechtspartei ist auch deren ehemaliger Präsident, Nationalrat Albert Rösti (53, BE). Er habe stets betont, dass es ein schmaler Grat sei, zwischen Massnahmen zum Schutz der Gesundheit und Verhinderung wirtschaftlicher Verluste, sagt Rösti. «Nachdem die offiziellen Zahlen noch letzte Woche darauf hinwiesen, dass in den Spitälern noch Kapazitäten vorhanden sind, haben meine persönlichen Kontakte mit Leuten an der Spitalfront ein verändertes Bild ergeben.» Vor diesem Hintergrund könne er die Entscheide des Bundesrates nachvollziehen.
Dieser Schwenk erfreut im Bundeshaus allen voran einen: CVP-Präsident Gerhard Pfister (58). Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vertritt der Zuger die Position, die teils scharfe Kritik am Bundesrat vonseiten der FDP und SVP erschüttere das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung, wenn die Lage – wie in diesen Tagen – ohnehin schon angespannt ist. Entsprechend zeigt sich Pfister «zufrieden, dass jetzt alle Parteien wieder hinter dem Bundesrat stehen». Weiter kommentiert er den Meinungsumschwung der Volkspartei nicht.
Angesprochen auf das zögerliche Vorgehen des Bundesrats, hält sich Pfister ebenfalls zurück. «Es bringt nichts, jetzt Kritik anzubringen», sagt er. «Vermutlich haben alle zu spät reagiert: Was man jetzt gemacht hat, hätte man vor drei bis vier Wochen machen sollen.» Er sei froh, dass Kantone und Bund jetzt wieder am selben Strick zögen.
Cédric Wermuth (34, AG), Co-Präsident der SP, macht aus seinem Unmut hingegen keinen Hehl. «Der Bundesrat agiert seit Wochen mutlos und zögerlich», sagt er. Die eben beschlossenen Massnahmen hätten vor zwei Wochen vielleicht gereicht, aber jetzt sei man wieder zu spät dran.
Dabei sieht Wermuth in erster Linie die Bürgerlichen in der Pflicht. SP-Bundesrat Berset versuche schon lange, mehr zu erreichen, «aber die Blockade kommt von Rechts». Dabei könne niemand ernsthaft glauben, dass die Massnahmen vom Freitag die letzten seien.
Am 30. Dezember will der Bundesrat entscheiden, ob weitere Massnahmen nötig sind. Ob der Burgfrieden bis ins neue Jahr hält, ist also alles andere als sicher. Klar ist: Selbst mit einer baldigen Impfung ist die Pandemie so schnell nicht vorbei.