Nach 12 Jahren wurde ihr die IV-Rente gestrichen
«Ich bin fertig»

Marianne Zumstein (61) ist Opfer der verschärften IV-Praxis. Ihre Geschichte zeigt, welche Schicksale sich hinter den Zahlen verbergen.
Publiziert: 11.08.2019 um 00:37 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2019 um 13:59 Uhr
In der Schweiz erhalten Jahr für Jahr weniger Menschen Geld von der Invalidenversicherung (IV).
Foto: Keystone
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Marianne Zumstein* (61) lebt in der Agglomera­tion von Zürich. Sie hat sich mit SonntagsBlick an einem ruhigen Plätzchen an der Limmat verabredet. Die klein ­gewachsene Frau wirkt etwas nervös, zündet sich eine Zigarette an. «Das Päckchen kostet nur 5.50 Franken!», sagt sie, als müsste sie sich rechtfertigen.

Zumstein erhielt 2003 eine volle IV-Rente zugesprochen. 2015 – mehrere IV-Revisionen später – wird ihr Fall neu beurteilt.

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In einem Brief hält die zuständige IV-Stelle fest: Zumstein sei nur eine Tätigkeit «ohne Zeitdruck und ohne hohe Anforderungen an das Konzentrations- und Durchhaltevermögen» zuzumuten. Eine «körperlich schwere und mittelschwere Tätigkeit», das «Gehen auf unebenem Gelände» sowie das «Führen eines Fahrzeugs und Bedienen von gefährlichen Maschinen» komme ebenfalls nicht infrage.

Dennoch kommen die Behörden zum Schluss: «Eine behinderungsangepasste Tätigkeit ist zu 100 Prozent zumutbar.» Ihre IV-Rente wird komplett gestrichen.

Tausenden anderen Schweizern ging es in den vergangenen Jahren genauso. Was bei solchen Entscheidungen häufig vergessen wird: Hinter jeder einzelnen gestrichenen Rente steckt ein persönliches Schicksal, eine einzigartige Biografie.

Dies hier ist die Geschichte von Marianne Zumstein

«Mein Vater war ein Satan. Meine jüngere Schwester und ich wurden von ihm regelmässig in eine Kammer eingesperrt und mit der Pistole bedroht. Als ich elf Jahre alt war, hat er sich umgebracht. Gott sei Dank! Ich war glücklich, dass er weg war.

Mit 24 zog ich vom Land in den Raum Zürich. Ich heiratete, bekam einen Buben, kurz darauf eine Tochter.

Die Ehe hielt nur wenige Jahre. Nach der Scheidung hatte mein Mann die Kinder nur noch am Wochenende.

Eines Tages erzählte die damals siebenjährige Tochter ­ihrem Lehrer, sie werde vom Vater gestreichelt. Ein Schock. Ich zeigte diesen Sauhund sofort an. Doch er wurde freigesprochen – ‹mangelnde Beweise›.

Das Schlimmste daran: Ich musste ihm die Kinder danach wieder rausgeben. Wie kann ein Staat so etwas von einer Mutter verlangen? Der Bub hat nach den Wochenenden beim Vater immer geweint. Das Mädchen war ebenfalls komisch. Zwei, drei Jahre ging das so. Bis ich der Tochter irgendwann gesagt habe: Jetzt rede endlich mit mir! Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest!

Pistole vor der Gerichtsverhandlung

Irgendwann hat sie mir dann gesagt, dass zwischen ihr und dem Vater noch immer etwas laufe. Ich konnte es nicht glauben, war mit den Nerven endgültig am Ende.

Es kam erneut zur Anzeige. Doch dieses Mal besorgte ich mir vor der Gerichtsverhandlung eine Pistole. Ich wollte den Siech erschiessen. Sie haben mich aber vor dem Gericht abgetastet und die Waffe entdeckt.

Dieses Mal wurde er verurteilt. Wegen guter Führung sass er aber nur dreieinhalb Jahre. Ich lernte in dieser Zeit einen neuen Mann kennen, einen Ausländer. Die zweite Ehe.

Doch auch das ging nicht lange gut.

Meine Tochter machte überall Probleme, hatte ein völlig gestörtes Sexualverhalten. Sie war ständig auf der Suche nach Sex – und machte sich an meinen neuen Mann ran. Dieser liess sich darauf ein.

Tochter ins Jugendheim, Sohn nach Italien

Meine Tochter erzählte es meinem ersten Mann, dieser der Polizei. Mein neuer Mann wurde verurteilt und ausgewiesen.

Ich war am Boden, brauchte Hilfe. Die Tochter kam in ein Jugendheim, der Sohn ein Jahr nach Italien in ein neues Umfeld. Ich habe drei Monate lang nur gesoffen, war nervlich am Ende. So oft es ging, arbeitete ich noch als Nachtchauffeurin.

Irgendwann hat mich mein Arzt bei der IV angemeldet. Ich bekam eine Rente zugesprochen. Trotzdem ging es mir nach wie vor schlecht.

Früher war ich für jeden Spass zu haben. Nun sagten mir die Leute: Du bist nicht mehr die Gleiche. Ich kam in psychiatrische Behandlung, muss bis heute Psychopharmaka nehmen.

Auch körperlich ging es bergab. In den vergangenen vier Jahren, seit dem IV-Stopp, hatte ich acht Operationen. Eine Magenspiegelung, ein Darm­tumor, ein Netz im Bauch, Knieprobleme – ich habe den Überblick verloren. Bei einer OP hatte ich einen Herzinfarkt. Zwei Stents wurden nötig.

900 Franken zum Leben

Ich bin fertig. Ich mag nicht mehr. Mein Verstand ist kaputt.

Mit den Kindern habe ich ein gutes Verhältnis, auch wenn es nicht immer einfach ist. Die Tochter hat mittlerweile zwei Kinder, das dritte ist unterwegs. Ich kann sie nur selten besuchen, das Zugbillett ist zu teuer.

Mit der IV hatte ich 2900 Franken pro Monat. Nun muss ich mit 2000 Franken auskommen. Nach Abzug der Miete bleiben 900 Franken zum Leben. Das Telefon und der Strom sind da noch nicht bezahlt.

Ich fresse jeden Tag Teigwaren. Eine Berechtigung für das ‹Tischlein deck dich› habe ich nicht bekommen, da alle vorhandenen Gutscheine schon vergeben waren.

Man hat mir auch schon gesagt, ich müsse halt meine beiden Hunde abgeben, wenn es finanziell nicht reiche.
Doch das mache ich sicher nicht. Ohne die Hunde würde ich schon lange unter dem Boden liegen.»

* Name geändert

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