Vier Jahre lang musste Erin Conklin (34) auf diesen Moment warten. «Die Menschen haben genug von Donald Trumps Tiraden», sagt die Demokratin aus Adrian, Michigan. «Für unsere Familie bedeutet die Wahl von Joe Biden, dass es wieder Hoffnung gibt. Dass Amerika wieder ein Land wird, in dem wir unsere Kinder grossziehen wollen.» Die Zukunft sei hell, sagt Conklin. Und immer wieder sagt sie: «Change.»
Veränderung – darauf hoffen Millionen von Amerikanern. Die Erwartungen, die sie in ihren neuen Präsidenten Joe Biden (77) setzen, sind enorm. Mit Trumps Abwahl allein jedoch sind Amerikas Probleme nicht aus der Welt: Der Trumpismus ist vielleicht stärker denn je, das Land gespalten, der Kongress blockiert. Kann der neue Präsident da etwas verändern? Und wie will er das tun?
«Jetzt machen wir uns an die Arbeit, zu der Gott und die Geschichte uns berufen haben», sagte Biden in seiner Rede nach der Wahl. Dann nannte er Präsidenten, die Amerika verändert haben: Abraham Lincoln, Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy und Barack Obama. Das ist mehr als nur Rhetorik: Die vier Titanen stehen für Bidens Programm.
Der 46. US-Präsident knüpft dort an, wo Barack Obama (59) aufhörte. Er will versöhnen, sagt Diskriminierung den Kampf an – wie Abraham Lincoln (1809–1865), der die Schwarzen von der Sklaverei befreite. Im Kampf gegen Corona-Krise und Klimawandel setzt Biden auf die Wissenschaft – wie John F. Kennedy (1917–1963), der im Wettlauf gegen die Sowjetunion massiv in die Bildung investierte und die Eroberung des Weltraums vorantrieb.
USA aus Wirtschaftskrise führen
Schliesslich will Biden die USA mit einem riesigen Konjunkturpaket aus der Wirtschaftskrise führen – wie Franklin D. Roosevelt (1882–1945) in der Grossen Depression. Der Demokrat reagierte auf die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er-Jahre mit einem gigantischen Reformpaket, dem «New Deal». Er ist das Vorbild für Joe Bidens Projekt «Build Back Better» – ein zwei Billionen Dollar schweres Programm zur Erneuerung der US-Infrastruktur. Es soll Millionen neuer Jobs generieren, den Arbeiterschutz stärken und den geschwächten Gewerkschaften neue Schlagkraft verleihen.
Doch Biden will nicht nur bauen, um Stellen zu schaffen. Die Investitionen sollen einer grünen amerikanischen Wirtschaft zum Durchbruch verhelfen. «Es ist völlig richtig, entschlossen darauf hinzuwirken», sagt Ralph Ossa (41), Wirtschaftsprofessor an der Uni Zürich. «Der Klimawandel ist und bleibt eine zentrale Herausforderung.»
Um dieses Programm durchzubringen, braucht der neue Präsident den Kongress. Doch eines von dessen Häusern, der Senat, bleibt wohl in republikanischer Hand. Claudia Brühwiler (38), Amerikanistin an der Uni St. Gallen, gibt Biden dennoch Chancen – und erinnert an einen weiteren US-Präsidenten: Lyndon B. Johnson (1908–1973). «Er war der König des Senats und konnte dessen Dynamik extrem gut nutzen», sagt Brühwiler. Auch der langjährige Senator Biden habe ein grosses Netzwerk und sehr gute Beziehungen zu entscheidenden Figuren wie Mitch McConnell (78), dem republikanischen Mehrheitsführer im Senat.
Mit Kamala Harris etwas bewirken
Und dann sei da noch Vizepräsidentin Kamala Harris (56): «Auch sie ist eine respektierte Senatorin. Zusammen können die beiden etwas bewirken.» Auf dieses Gespann hoffen auch viele Staatsoberhäupter und Regierungschefs, die Glückwünsche nach Washington schickten. «Dieser Vertrauensvorschuss gibt Biden grossen Spielraum», sagt Laurent Goetschel (54), Professor für Politikwissenschaft an der Uni Basel. «Er hat im Wahlkampf mit Blick auf die Innenpolitik viel von Versöhnung und Kooperation gesprochen. Wenn er davon auch nur zehn Prozent in die Aussenpolitik einfliessen lässt, schlägt das ein wie eine Bombe.»
Kein US-Präsident habe so viel aussenpolitische Erfahrung ins Amt gebracht wie Biden, sagt Goetschel. «Mit ihm werden sich die USA wieder stärker engagieren in der Welt.» Biden hat bereits angekündigt, das von Trump aufgekündigte Pariser Klimaabkommen neuerlich zu unterzeichnen. Goetschel: «In dieser Frage können sich die USA vom Bremser wieder zu einer führenden Kraft vorarbeiten.» Das gelte auch für die Friedenspolitik. «Biden beendet Trumps nationale Show-Politik und stärkt die Kooperation.»
Davon profitiere wiederum die Weltwirtschaft, sagt Ökonom Ossa: «Die WTO hätte eine zweite Amtszeit von Trump wohl nicht überstanden. Das wäre das Ende unseres regelbasierten Welthandelssystems gewesen, mit ernsthaften Konsequenzen gerade für kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz.»
Autokratische Mächte stoppen
Trump hat Anti-Demokraten aus Russland, China und Nordkorea hofiert. Jetzt lanciert Biden die Initiative «Free World»: Gemeinsam mit europäischen und asiatischen Verbündeten will er den Vormarsch autokratischer Mächte stoppen – ähnlich wie der einstige US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924). Der rief nach dem Ersten Weltkrieg den Völkerbund ins Leben und proklamierte: «Make the World Safe for Democracy!»
Das sei ein Kernsatz der amerikanischen Demokraten geworden, sagt Bernd Stöver (59), Geschichtsprofessor an der Uni Potsdam und Verfasser des Standardwerks «Geschichte der USA». China, Russland oder Nordkorea würden deshalb zwar nicht demokratischer, so Stöver. «Aber in Staaten wie Weissrussland und der Ukraine kann Biden die demokratischen Kräfte tatsächlich stärken.»
Der kommende Präsident hat bereits mit diversen Staatschefs telefoniert – über private Kanäle. Denn die Administration Trump verweigert ihm die gesetzlich vorgeschriebene Unterstützung für die Übergangsphase. Bidens Team arbeitet trotzdem auf vollen Touren, auch an der Besetzung des neuen Kabinetts. Unter den Anwärtern auf ein Ministeramt sticht Pete Buttigieg (38) heraus: Mit dem Bürgermeister aus South Bend, Indiana, zieht wohl eines der grössten Talente der Demokraten nach Washington.
«Darin steckt neben Symbolik und Programm vielleicht der wichtigste Aspekt von Bidens Präsidentschaft», so die Amerikanistin Brühwiler: «Dass er ein Brückenbauer wird – nicht nur für Kamala Harris, sondern auch für eine neue demokratische Generation.»