Martin Tschirren, Chef über das Wohnungswesen in der Schweiz, zeichnet ein düsteres Bild
«Bis 2026 sind Mietzins-Erhöhungen von über 15 Prozent möglich»

Steigende Mieten und weniger Wohnungen: Die Schweiz steckt in einer Wohnungskrise. Und was tut der Bund? Martin Tschirren, Chef des Bundesamts für Wohnungswesen, wehrt sich gegen den Vorwurf, untätig zu sein.
Publiziert: 02.09.2023 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 02.09.2023 um 07:17 Uhr
Martin Tschirren leitet seit 2020 das Bundesamt für Wohnungswesen.
Foto: keystone-sda.ch
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Lea HartmannRedaktorin Politik

Für Mieterinnen und Mieter ist es eine gute Nachricht in schwierigen Zeiten. Nachdem der Bund vergangenen Juni erstmals überhaupt den Referenzzins angehoben hat, lässt der nächste Miet-Hammer auf sich warten. Das Bundesamt für Wohnungswesen belässt den für die Berechnung der Mieten wichtigen Zins vorerst bei 1,5 Prozent. 

Doch wirklich aufatmen können Mietende nicht. Martin Tschirren (52), Chef des Bundesamts für Wohnungswesen (BWO), rechnet fest mit weiteren Erhöhungen. Im Interview mit Blick erläutert er, warum er besorgt ist – und dennoch Hoffnung hegt.

Blick: Herr Tschirren, sind Sie froh, nicht schon wieder eine Hiobsbotschaft für die Mietenden verkünden zu müssen?
Martin Tschirren:
Ich habe bereits im Juni damit gerechnet, dass der Referenzzinssatz jetzt nicht steigt. Auch wenn eine Erhöhung bei vielen Mieterinnen und Mietern keine Freudengefühle auslöst: Es ist nun mal die Aufgabe unseres Amts, den Referenzzinssatz bekannt zu geben. Das ist gesetzlich so vorgesehen und deshalb eine relativ emotionslose Angelegenheit. 

Schon klar, Sie selbst wohnen schliesslich im Eigenheim.
Das spielt keine Rolle, ich war auch lange Mieter. Zudem sind viele in meinem Umfeld von einer Mieterhöhung betroffen oder rechnen damit, auch Mitarbeitende in unserem Amt. Ich bekomme die Folgen durchaus mit.

Die nächste Zinserhöhung dürfte bald folgen. Wie sieht Ihre Prognose aus: Kommt sie noch dieses Jahr?
Ich bleibe bei dem, was ich schon im Juni gesagt habe: Die nächste Erhöhung ist im Winter zu erwarten – entweder schon diesen Dezember oder dann im März. 

Vom Diplomaten zum Chefbeamten

Martin Tschirren (52) ist seit 2020 Chef des Bundesamts für Wohnungswesen. Nach einem Studium in Geschichte und Theologie arbeitete er einige Jahre als Diplomat beim Aussendepartement. Später lobbyierte er für die Kraftwerke Oberhasli und war während elf Jahren Vizedirektor des Städteverbands. In seiner Freizeit spielt Tschirren gern Klarinette und fährt Rennvelo. Er ist verheiratet und lebt in der Stadt Bern.

Martin Tschirren (52) ist seit 2020 Chef des Bundesamts für Wohnungswesen. Nach einem Studium in Geschichte und Theologie arbeitete er einige Jahre als Diplomat beim Aussendepartement. Später lobbyierte er für die Kraftwerke Oberhasli und war während elf Jahren Vizedirektor des Städteverbands. In seiner Freizeit spielt Tschirren gern Klarinette und fährt Rennvelo. Er ist verheiratet und lebt in der Stadt Bern.

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Wie legen Sie den Referenzzinssatz fest?
Alle Banken, die für mehr als 300 Millionen Franken Hypotheken vergeben, müssen der Nationalbank melden, wie viele Hypotheken sie zu welchem Zinssatz haben. In der Summe sind das gegen 1200 Milliarden Franken! Die Nationalbank berechnet daraus den gewichteten durchschnittlichen Zinssatz. Diesen runden wir auf ein Viertelprozent – das ergibt den Referenzzinssatz. Es geht also um Mathematik und nicht um Politik!

So hinkt der Referenzzinssatz der Situation auf dem Hypothekenmarkt stets hinterher. Werden die Mieten im Verlauf der kommenden Jahre also weiter steigen?
Es stimmt, der Referenzzinssatz ist träge konstruiert. Es ist durchaus möglich, dass es in den kommenden ein, zwei Jahren noch eine dritte Erhöhung geben wird. Für jeden Viertelprozentpunkt, um den der Referenzzins steigt, kann ein Vermieter die Miete um drei Prozent erhöhen. Weiter können 40 Prozent der Teuerung und allgemeine Kostensteigerungen hinzukommen. Alles zusammengezählt, sind bis 2026 Mietzinserhöhungen von über 15 Prozent möglich.

Das ist happig. Schon heute spricht die SP von einer sozialen Krise, die sich anbahnt. Sind auch Sie besorgt?
Für Haushalte, die bereits Schwierigkeiten haben, die Miete zu zahlen, wird die nächste Zeit sehr anspruchsvoll. Aber auch für Vermieter ist es nicht einfach. Vielleicht überlegen sich manche, ob sie die Miete erhöhen wollen, wenn sie vermuten, dass ihre Mieterschaft die Miete nicht mehr bezahlen kann. Gleichzeitig sind aber auch die Vermieter mit höheren Kosten konfrontiert.

Spätestens ab 2024 sei wohl mit einer Wohnungsknappheit zu rechnen, lautete Ihre Prognose vergangenes Jahr. Das würde für einen zusätzlichen Preisschub sorgen. Ist die Prognose noch aktuell?
Angebot und Nachfrage bei Wohnungen entwickeln sich seit einigen Jahren auseinander. Während die Nachfrage leicht steigt, geht die Bautätigkeit seit 2018 zurück. Betrachtet man die ganze Schweiz, ist die Lage noch nicht dramatisch. Aber die Schere öffnet sich weiter – und in den Städten ist die Situation seit Jahren angespannt. Hinzu kommt: Auch in kleineren Städten und Gemeinden sowie in den Tourismusgebieten verschärft sich die Lage. Meine Prognose ist also nach wie vor aktuell.

Steigende Mieten, zu wenig Wohnungen: Was läuft schief in der Wohnbaupolitik?
Das lässt sich nicht so einfach sagen. Im Moment kommen viele Entwicklungen zusammen. Da sind die steigenden Zinsen, der Rückgang der Bautätigkeit sowie die höheren Preise für Energie und Baumaterialien wegen des Ukraine-Kriegs. Zudem führt die robuste Wirtschaftslage in der Schweiz dazu, dass die Nachfrage nach Wohnraum hoch bleibt. 

Sie wollen also sagen: Pech gehabt, es kommen jetzt halt gerade viele ungünstige Entwicklungen zusammen – und man muss das einfach hinnehmen?
Die Frage, ob man die Situation dem Markt überlassen oder eingreifen will, muss die Politik beantworten. Unsere Aufgabe ist es, den Wohnungsmarkt zu beobachten und auf Entwicklungen hinzuweisen. Zudem hat der Bund in diesem Bereich nicht viele Kompetenzen.

Da machen Sie es sich sehr einfach. Ihr Amt hat sicherzustellen, dass alle Menschen in der Schweiz Zugang zu einer bezahlbaren Wohnung haben. Sie können die Verantwortung nicht auf Kantone, Gemeinden und die Wirtschaft abschieben!
Keineswegs! Der Wohnungsbau ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Privaten. Der Bund fördert den gemeinnützigen Wohnungsbau und trägt so dazu bei, dass preisgünstiger Wohnraum entsteht. Zudem hat Bundesrat Guy Parmelin im Mai alle wichtigen Player an einen runden Tisch geladen, um einen Aktionsplan zu entwerfen.

Mit welchem Ergebnis? Über konkrete Massnahmen will man erst 2024 entscheiden. Der Bund schiebt das Problem auf die lange Bank.
Nein, im Gegenteil. Die Bank ist ziemlich kurz. Die eingesetzte Arbeitsgruppe hat über den Sommer intensiv gearbeitet und konkrete Vorschläge ausgearbeitet. Nun sind wir in der Endphase für einen ersten Entwurf, der dann bei den Kantonen, Städten und Gemeinden in Konsultation geht. Im ersten Quartal 2024 soll der Aktionsplan verabschiedet werden. Für ein solches Projekt ist das relativ schnell!

Was sind die konkreten Vorschläge?
Wir suchen nach Massnahmen in drei verschiedenen Bereichen: Siedlungsentwicklung nach innen, schnellere Planungs- und Baubewilligungsverfahren und eine stärkere Förderung von preisgünstigem und bedarfsgerechtem Wohnraum. 

Alles keine neuen Rezepte. Bleibt das Problem: Bisher gab es keine politischen Mehrheiten für diese Vorschläge. Haben Sie die Hoffnung, dass das ändert?
Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich diese Arbeit nicht machen! Mein Eindruck ist: Ein Grundkonsens ist, dass es Handlungsbedarf gibt. Was es nun braucht, ist politischen Mut auf allen Ebenen!

Für die SVP ist die Zuwanderung schuld an der Wohnungsknappheit. Stimmt das?
Die Zuwanderung spielt eine wichtige Rolle – aber nicht nur. Unsere Wirtschaft braucht Arbeitskräfte, auch die Bauwirtschaft. Allein um die Babyboomer zu ersetzen, die in den kommenden Jahren in Pension gehen, sind wir auf Zuwanderung angewiesen. Ein anderer Faktor ist auch, dass die Haushalte immer kleiner werden und wir somit zunehmend mehr Wohnraum brauchen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass wir häufiger allein oder zu zweit wohnen, auch weil wir immer älter werden.

Senioren sollten also in WGs ziehen, um die Wohnungsnot zu entschärfen?
Wir sollten uns tatsächlich überlegen, wie wir unseren Wohnungsmarkt für eine Gesellschaft fit machen können, die immer älter wird. Ich war vergangenes Jahr in Berlin und habe Wohnmodelle für Senioren gesehen, die kleinere Einheiten und Gemeinschaftsräume kombinieren – sogenannte Cluster-Wohnungen. Das fand ich sehr interessant! 

Sie sind seit gut drei Jahren Chef des BWO. An Ihrem ersten Arbeitstag hat der Bundesrat den Lockdown verkündet. Erst Corona, jetzt die verschärfte Wohnungsnot: Bereuen Sie eigentlich Ihren Amtsantritt?
Nein, auf keinen Fall. Aber natürlich, mit einer solchen Entwicklung habe ich nicht gerechnet. Jetzt ist es etwas anders gekommen – spannender als erwartet. 

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