«Ich wuchs in einer ländlichen Gemeinde zwischen Bern und Thun auf. Obwohl ich niemanden kannte, der schwul war, war für mich schon früh klar: Ich bin es. Aber es dauerte lange, bis ich dazu stehen konnte. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler haben es gemerkt. Ich entsprach nicht dem Stereotyp, war weder Fussballer noch Gamer. In der Oberstufe fingen die Fragen und Sprüche an. Das Wichtigste schien ihnen zu sein, dass ich es zugebe. ‹Du Schwuchtel, sag es endlich!› Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. Offenbar war Schwulsein etwas Schlechtes, Falsches, Abnormes. Die Angst wuchs, von meinen Freundinnen und Freunden verlassen zu werden. Vielleicht sogar von meiner Familie. Und so beschloss ich: Ich werde es niemals zugeben.
Als ich in die Berufsschule in Thun ging, wurden die Fragen provokanter, die Sprüche härter. Im Schullager wehrte sich ein Mitschüler dagegen, mit mir im gleichen Schlag zu übernachten. ‹Am Ende liegt der Schwule mitten in der Nacht in meinem Bett!› Ich war baff. Und gab mit meiner Standardantwort zurück: ‹Ich stehe auf Frauen!› Mehr hatte ich nicht zu entgegnen. Das blieb in den folgenden Jahren so.
Es wurde immer schwieriger, es auszuhalten. Meine Mutter kam schliesslich auf mich zu: ‹Was ist los?› Da fand ich den Mut, mich zu öffnen. Und sagte ihr, dass ich schwul sei. Zehn Jahre ist das her. Meine Mutter und mein Umfeld reagierten sehr positiv auf mein Coming-out. Ich wurde selbstsicherer und ging schliesslich offen mit meiner Homosexualität um.
Angeekelte Ausrufe
Ich begann ein Studium in Luzern und arbeitete als Kinder- und Jugendarbeiter in Baar. Unter den Jugendlichen wurde meine Sexualität rasch ein Thema. Da schlug mir die ganze Palette an Reaktionen entgegen. Von interessierten Fragen bis zu angeekelten Ausrufen: ‹Das ist ja megagruusig!› Es war, als ob sie mir einen Hut übergestülpt hätten. Das ist der Schwule. Es war eine zusätzliche Herausforderung zu meiner Arbeit. Und manchmal wurde es zu viel. Wie im Fall des achtjährigen Jungen, der sich in der Gruppe danebenbenahm. Als ich ihn aus dem Zimmer führte, um das zu klären, fragte er mich: ‹Willst du mich jetzt vergewaltigen?›
Gegen Ende meiner Zeit in Baar begegnete ich einem jungen Mann wieder, mit dem ich in der Jugendarbeit zu tun gehabt hatte. Er war mittlerweile Anfang zwanzig. Es war spät, als ich das Büro verliess und mich zum Bahnhof aufmachte. Ich erkannte seine Stimme zunächst nicht, als ich ihn hinter mir hörte. ‹Verpiss dich, Schwuchtel!›
Ich ignorierte ihn und ging weiter. Er holte auf. Die Beschimpfungen wurden heftiger. Und hörten auch nicht auf, als ich stehen blieb und mich umdrehte. ‹Schwule Sau!› Wir standen uns gegenüber, und er brüllte weiter auf mich ein. Aus seinen Augen starrte mich purer Hass an. ‹Du weisst, wie ich heisse›, sagte ich zu ihm. ‹Nenn mich bei meinem Namen.› Das tat er nicht. Stattdessen holte er aus und schlug mir die Faust ins Gesicht. Ich war total perplex. Er sah mich an und holte erneut aus. Dann traf mich ein zweiter Schlag. Ich drehte mich um und lief davon. Er folgte mir. Es gelang ihm noch, mich eine Treppe hinunterzustossen. Dann kamen wir ins Blickfeld von Passanten, und er liess von mir ab.
Anzeige bei der Polizei erstattet
Der Schock sass tief. Es war wichtig für mich, dass ich mich danach an einen Freund wenden, darüber sprechen konnte. Dann ging ich zur Polizei und erstattete Anzeige. Was ich dort zum ersten Mal erfuhr: Hätte der Mann mich nicht geschlagen, hätte ich keine Anzeige machen können. Die Beschimpfungen und Beleidigungen allein wären zu wenig gewesen. Für die Anzeige waren nur die Faustschläge relevant. Dass sie mich trafen, weil ich schwul bin, spielte keine Rolle.
Der Mann, der mir die Schläge verpasst hatte, meldete sich anschliessend bei mir. Wir sprachen lange miteinander. Dieses Mal auf Augenhöhe und mit Respekt. Ich konnte ihm sagen: ‹Ich bin ein Mensch. So kannst du nicht mit mir umgehen.› Die Anzeige zog ich anschliessend zurück. Ich hatte, was ich wollte: seine Einsicht, etwas Falsches getan zu haben, und eine Begegnung auf Augenhöhe.
Heute arbeite ich als Programmleiter von du-bist-du.ch. Wir bieten Peer-Beratung für junge Menschen rund um das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt an. Daneben mache ich die Ausbildung zum Sexualpädagogen. Für die Zukunft habe ich zwei Wünsche: dass Menschen jeglicher Couleur sich auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen und dass die Schweizer Gesetzgebung so angepasst wird, dass Homosexuelle nicht mehr länger Menschen zweiter Klasse sind.»