Die Frau im blauen Mantel zieht alle Blicke auf sich – nicht nur in der Badener Altstadtgasse, in der sie am Freitagabend steht, sondern auch national: als Strippenzieherin für die Annullierung einer Initiative. Eine Premiere in der Schweizer Demokratie.
Es ist Marianne Binder (60), Aargauer CVP-Präsidentin, Ständeratskandidatin und seit kurzem Grossmutter. Sie strahlt, spricht immer wieder von einem historischen Sieg. Zu Recht: Am Mittwoch erklärte das Bundesgericht die Abstimmung über die Heiratsstrafe-Initiative der CVP für ungültig. Diese wollte hauptsächlich steuerliche Nachteile für Ehepaare abschaffen. Für ungültig erklärt wurde sie nun, weil der Bund mit falschen Zahlen informiert hatte.
Filmreifer Auftritt im Bundesgericht
Eine der Beschwerdeführerinnen war Marianne Binder. «Das war filmreif im Bundesgericht. Die langen Treppen, der Saal, die Richter – eindrücklich», sagt sie. «Es fehlte nur noch, dass sie Perücken trugen.» Binder erzählt viel und gerne, mündlich und auf dem Papier. Schreiben ist ihre Leidenschaft. Es liegt ihr im Blut, genauso wie das Politisieren. Ihre Mutter war Schriftstellerin, ihr Vater CVP-Nationalrat.
Aber zurück zur Heiratsstrafe. 2016 hatte das Volk die CVP-Initiative knapp abgelehnt. Ein Grund: die Umschreibung der Ehe im Initiativtext als «Lebensgemeinschaft von Mann und Frau». «Bis zum Abstimmungskampf hat das niemanden gestört», sagt Binder heute. Nicht mal Parteimitglieder, die homosexuell sind und sich später dazu entschlossen hätten, die Initiative abzulehnen.
Binder kennt keine Kompromisse
«Es ging uns nie um die Umschreibung der Ehe», sagt Binder. Und nein, Homophobie lasse man sich nicht vorwerfen. «Mir selbst ist es unwichtig, wer wen heiratet.» Und sie befürwortet die Ehe für alle, solange sie mehrheitsfähig ist. «Aber konsequenterweise auf Verfassungsebene, denn das bedeutet dann nicht wie jetzt auf Gesetzesebene vorgesehen ‹Recht auf Ehe für alle›, sondern ehrlicherweise auch ‹Recht auf Kinder für alle›.»
Wenn schon, dann richtig – Marianne Binder kennt kaum Kompromisse. Nicht wenn es um Politik geht, denn «im Leben ist alles Politik». Und auch nicht, wenn es um Feminismus geht. Darum findet sie auch, dass die aktuelle Frauenbewegung den Fokus zu wenig auf Parallelgesellschaften legt. «Während wir hier jeden Fussgängerstreifen auf Gendergerechtigkeit untersuchen, leiden andere Frauen in urpatriarchalen Systemen – das ist zynisch», nervt sie sich. Und erzählt von einer Brieffreundin aus dem Iran, die «1979 unter diesen Tüchern verschwand» – und ihre ganze Zukunft, ihr aufgeschlossenes Wesen gleich mit. Darum kämpft Binder gegen die Burka. «Das ist eine durch und durch feministische Forderung, schliesslich ist dieses sexualisierende und diskriminierende Tuch ein skandalöser Eingriff in die Würde der Frau.»
Frauen müssen sich durchboxen
Abgesehen von der «falschen Toleranz» diesen Dingen gegenüber, findet Binder, dass Frauen hierzulande ihr Schicksal vermehrt selbst in die Hand nehmen müssten, wenn sie sich in Männerdomänen wie der Politik behaupten wollen. «Wenn noch immer 67 Prozent der Frauen gar nicht an die Urne gehen, kann man wohl nicht einfach nur den Männern die Schuld geben», sagt sie. «Ich selbst bin mit drei Brüdern aufgewachsen und hatte nie das Gefühl, es gebe einen Unterschied.» Im Gegenteil. «Aber klar, man muss sich durchboxen.» Und die Politik habe sie gelehrt, sich eine dicke Haut zuzulegen. «Das war nicht immer einfach, aber eine gute Übung, nicht immer alles persönlich zu nehmen.» Müssen Frauen wirklich männliche Eigenschaften annehmen, um in der Politik zu bestehen? «Ja», findet Marianne Binder. «Und Männer sich dafür damit abfinden, dass man auch mit weiblichen Eigenschaften trumpfen kann.»
Binder ist unkompliziert, wenn es um die Fotos geht. Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern ist das Rampenlicht gewohnt, spielt mit ihm. Vor ihrer politischen Karriere war sie Kabarettistin und Fernsehmoderatorin. Binder ist Profi durch und durch, ist sich aber auch für derbe Sprüche nicht zu schade und hilft einer Gruppe, die auf Schnitzeljagd ist, den nächsten Posten zu finden. Was davon taktisch und was spontan ist, sei dahingestellt. Einmal bleibt Binder kurz vor einem Haus stehen, in dem sie mal gewohnt hat, direkt neben einem berühmten Kulturlokal. «Das war gemütlich, im Bett zu lesen und vor dem Fenster die laute Musik und das Geplauder zu hören.» Binder ist lebhaft, hat eine entwaffnende Offenheit, Temperament.
Das verstaubte Image der Partei aufpolieren
Wozu das alles eigentlich nicht passt: zum etwas verstaubten Image ihrer Partei. Genau dieses könnte die Aargauerin aufpolieren. Indem sie der CVP bei einer erneuten Abstimmung über die Heiratsstrafe zu einem Sieg verhilft. Denn da habe man noch ein Ass im Ärmel: «Im Nationalrat ist eine identische Standesinitiative hängig, die ohne die Ehe-Definition auskommt.» Binder fände es die «eleganteste Lösung», nähme das Parlament diese an, sagt sie.
Im Herbst stehen dann die Ständeratswahlen an. Unter den Kandidaten der Bundesratsparteien ist sie die einzige Frau.